Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede Dr. Josef Zierden zu Hans Joachim Schädlich

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Frankfurter Buchmesse 1977, vor 35 Jahren also: der Rowohlt-Verlag präsentierte als Höhepunkt der Saison einen Autor aus der DDR, den selbst Insider kaum kannten: Hans Joachim Schädlich und sein Erstlingswerk „Versuchte Nähe“ - 25 Erzählungen, zwischen 1969 und 1977 geschrieben. Begeistert gelobt von Literaturkritikern wie Marcel Reich-Ranicki oder Fritz J. Raddatz und von  Schriftstellerkollegen wie Günter Grass, Jurek Becker oder Nicolas Born. Das sei „die seit langem wichtigste Prosa aus der DDR“, jubelte Fritz J. Raddatz in der „Zeit“. „Schädlich ist einer der wichtigsten Autoren deutscher Sprache. (...) Wir sollten dieses Buch genau lesen“, schrieb Nicolas Born. Um die Lebensverhältnisse in der DDR geht es, um die Diskrepanz zwischen Ideologie und Realität, um die Alltäglichkeit staatlicher Unterdrückung, um Macht und Ohnmacht in einer totalitären Diktatur. Die Staatssicherheit bescheinigte dem Autor Schädlich, wir wissen es heute, dass er das Leben in der DDR als unerträglich empfinde und die „DDR als legitime Erbin reaktionärer Traditionen“ darstelle. Der Erfolg des Buches in Westdeutschland und international bedeutete neue Schikanen für den Autor, der schon seit dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns schikaniert und um seinen Arbeitsplatz bei der Ostberliner Akademie der Wissenschaften gebracht worden war. Immerhin: Schädlichs Ausreiseantrag wurde stattgegeben.

Fünfunddreißig Jahre ist das her. Längst ist die DDR untergegangen. Längst ist Schädlich von Hamburg wieder zurückgezogen nach Westberlin, 1979 schon. Beharrlich hat er ein umfangreiches literarisches Werk veröffentlicht, mehr als 20 Bücher: Prosaskizzen, Erzählungen, Romane, Aufsätze, Reden, Gespräche. Um die totalitäre Diktatur in der DDR geht es da ebenso wie um die totalitäre Diktatur des Nationalsozialismus, um die Kontinuität demokratiefeindlicher Traditionen überhaupt. Der Roman „Tallhover“, 1986 erschienen, vertieft die Analyse des autoritären Staates, das Problem von Anpassung und Widerstand, von Verfolgung und Gesinnungsschnüffelei, bis in die Vormärzzeit, in das preußische Königtum des Jahres 1842 hinein. Nach 1945 bekämpft Tallhover, der ewige Spitzel der Macht, „Staatsfeinde“ im Dienst der SED, während er zuvor etwa ein Jahrhundert lang Sozialisten bekämpft hat. Die SED-Herrschaft ihrerseits fügt sich nahtlos ein in die Tradition gewaltsamer Unterdrückung.

Überwachung und Verfolgung zu perfektionieren, ist auch hier Tallhovers Leidenschaft.

Ob in Ost oder West, ob in Geschichte oder Gegenwart, ob in Diktaturen oder in zwischenmenschlichen Beziehungen: das Anschreiben gegen Unterdrückung und Gewalt, gegen die Entmündigung und Entmenschlichung des Individuums bleibt ein zentrales Anliegen seines literarischen Schaffens. Ebenso das spannungsvolle Verhältnis von Geist und Macht, von Anpassung und Widerstand. Oder das Problem von Verrat, von missbrauchtem Vertrauen, von intellektueller Korruption.
Es war schmerzlich für Hans Joachim Schädlich, beim Studium seiner Stasi-Akten in der Gauck-Behörden im Januar 1992 entdecken zu müssen, dass ihn sein Bruder über ein Jahrzehnt bespitzelt, dass er die ganze Familie an die Stasi verraten hatte. 2007 erschoss sich der Bruder, 76 jährig, auf einer Berliner Parkbank. Als wäre die Kunstfigur Tallhover wiederauferstanden und schließlich ein weiteres Mal geendet.

Je mehr Hans Joachim Schädlich anschrieb gegen Unterdrückung und Verfolgung, gegen Entmündigung und Entmenschlichung, umso mehr musste er sich Idealen der Aufklärung verpflichtet fühlen, der proklamierten Mündigkeit des Individuums, der Vernunft und der Toleranz, den Menschenrechten und der Menschenwürde.

Passend zum Friedrich-Jahr 2012, zum 300. Geburtstag des Preußenkönigs Friedrich II., lässt Schädlich in seiner Novelle „Sire, ich eile“ Geist und Macht, Macht und Moral aufeinanderprallen: den französischen Philosophen, Historiker und Dichter Voltaire, eine Lichtgestalt der europäischen Aufklärung. Und den Preußenkönig, der die Ideale der Aufklärung schon früh auf dem Schlachtfeld enden ließ und der schon bald für Krieg und Gewalt, Unterdrückung und Intoleranz steht. Eine Beziehung im Spannungsfeld von Anziehung und Abkühlung, Respekt und Bloßstellung, von Wahrheit und Lüge. Friedrichs Wandlung vom feingeistigen Kronprinzen bis zum willkürlichen Despoten. Der Philosoph als bloßer imagefördernder Dekor. Ein Schöngeist im Käfig des Tigers. Nicht frei von Eitelkeit und begehrlichen Blicken für Adel, Mammon und Frauen. Schließlich verfolgt, gedemütigt, traktiert. Das Ende einer „Vandalengeschichte“, wie Voltaire sein dreijähriges Intermezzo in Berlin und Potsdam verächtlich resümiert hat.

Wer Schädlichs Begabung für Verdichtung, Verknappung, Reduktion kennt, den wundert nicht, dass die Novelle auf gerade mal 140 großzügig bedruckten Seiten erzählt wird. Und dass sie dennoch mit ihrem Scharfsinn und Hintersinn, mit ihrer Mischung von Fakten und Fiktion ein literarisches Werk von Gewicht ist - einmal mehr eine Anklage gegen Machtmissbrauch, einmal  mehr ein Plädoyer für das Humane aus dem Geiste der Aufklärung.

Herzlich willkommen beim 10. Eifel-Literatur-Festival 2012, herzlich willkommen im Festsaal von Haus Beda: einer der ganz großen, aber immer noch viel zu wenig bekannten Schriftsteller unserer Gegenwartsliteratur - Hans Joachim Schädlich.