Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede von Dr. Josef Zierden zur Lesung von Günter Grass in Prüm am 29.9.11

(„Grimms Wörter“)

 „Vielleicht mein letztes Buch“ hat Günter Grass „Grimms Wörter“ genannt. Vor gut einem Jahr, im August 2010, ist es erschienen.
Da geht es weniger um die berühmten Grimms Märchen, deren Erscheinen sich im Januar 2012 zum zweihundertsten Mal jährt. Mit ihnen haben Jacob und Wilhelm Grimm Weltruhm erlangt haben.
In dem Roman „Die Rättin“ des Jahres 1986 hatte Günter Grass noch vom drohenden Untergang der Grimmschen Märchenwelten erzählt: im Angesicht unaufhaltsamer Umweltzerstörungen und des nuklearen Wettrüstens in Ost und West.
Mit den Wäldern sterben die Märchen, heißt es, sterben die Märchengestalten im Märchenwald: wie Hänsel und Gretel, wie die Sieben Zwerge, wie Rotkäppchen und der Wolf.
Doch gerade in Grimms Wäldern wächst auch der Widerstand, zumindestens in einem Drehbuchszenario Oskar Matzeraths. Während aufklärerische Vernunft abgewirtschaftet und die Menschheit an den Rand der atomaren Selbstauslöschung geführt hat, entfaltet märchenhafte Phantasie kreativen Widerstand.
„Rettet die Märchen“ heißt ein Protestzug der bekanntesten Märchenfiguren nach Bonn, wo man bei den Brüdern Grimm offene Türen einrennt. Denn die sind als Minister und Staatssekretär inzwischen zuständig für den Umweltschutz, also auch für den sterbenden Wald.
In der Welt des Wunderbaren helfen Dornröschenschlaf und wildwuchernder Zaubersamen, die Mächtigen der Republik phantasievoll zu entmachten.
Schon scheinen die Märchen an der Macht, da werden sie von den Generälen und Industriebossen niedergewalzt.
Grimmige Anti-Idylle statt märchenhaftes Happy-End.
Und während alles Romangeschehen, angesiedelt im Orwell-Jahr 1984, auf „Ende“ und „Untergang“, auf „Zerstörung“ und „Vernichtung“ zuläuft, auf den Verlust jeglicher Zukunftsperspektive des Menschengeschlechts, versinkt die Großmutter mit dem Wolf lesend im Grimmschen Wörterbuch. Liest Wörter des Abschieds und nimmt Abschied von den Wörtern „aus alter Zeit“.

Mit apokalyptischen Untergangsszenarien hat das jüngste Buch von Günter Grass, „Grimms Wörter“, weniger zu tun.
Die genannte Lieblingslektüre der Großmutter, das „Grimmsche Wörterbuch“, steht nunmehr strukturbildend im Mittelpunkt.
Ein kühnes Jahrhundertprojekt, von Jacob und Wilhelm Grimm 1838 begonnen und bis zu ihrem Tod 1859 bzw. 1863 vorangetrieben, gemeinsam mit über 80 Mitarbeitern. Vollendet erst 1961, im Jahr des Mauerbaus, vollendet von Sprachforschern aus Deutschland-Ost und Deutschland-West. Und übrigens in dieser Region, an der Universität Trier, digital erfasst.
Mit 32 Bänden und rund 400.000 Stichwörtern in mehr als 67.000 Spalten ist es das umfangreichste Wörterbuch der deutschen Sprache überhaupt. Eine nie mehr erreichte Bestandsaufnahme des deutschen Wortschatzes und seiner geschichtlichen Entwicklung über zwölf Jahrhunderte hin. Ein Nationaldenkmal.

Von „A“ wie „Asyl“ bis „Z“ wie „Ziel“ schreiten die neun Romankapitel von „Grimms Wörter“ lexikalisch fort.
Häufen kaskadengleich Wortlisten, umzirkeln Wortfelder, bauen Wortbrücken durch mehr als 100 Jahre bis in unsere Gegenwart und weit zurück in früheste Sprachstufen.

Zugleich mit dem Leben und Arbeiten der Brüder Grimm werden Epochen deutscher Geschichte durchbuchstabiert: eine deutsche Chronik vom 19. bis ins 21. Jahrhundert - im Spannungsfeld von Restauration und Revolution, von Einheit und Freiheit, von deutscher Zersplitterung und gesamtdeutschem Nationalstaat.
Vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, über Kaiserzeit, Republik und Diktatur.
Grimm und Grass: so nahe sie im Alphabet beisammen sind, so sehr trennen sie die Lebens-Jahrhunderte. Im Grass‘schen Erzählen aber verknüpfen sich im Hin und Her der Zeiten immer neu Vergangenheit und Gegenwart, Grimm und Grass und Grass und Grimm.
Im Verschmelzen der Zeiten zur grassbekannten „Vergegenkunft“ entsteht so ineins eine Doppelbiografie: eine Biographie der Brüder Grimm und ihres gewaltigen Wortuniversums und eine politische Autobiographie von Günter Grass.
Als letzter Teil seiner autobiographischen Trilogie, zu der auch „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006) und „Die Box“ (2008) zu zählen sind.

Bei allem Hadern mit Deutschland, bei aller Kritik an der Berliner Republik: „Grimms Wörter“ ist zuallerst erst „eine Liebeserklärung“: an ein legendäres Brüderpaar, das lebenslang Zeugnisse deutscher Sprache gesammelt und untersucht hat, Märchen und Sagen, Volkslieder und Mythen - als einigendes Band der deutschen Kulturnation gerade in Zeiten politischer Zersplitterung.
„Grimms Wörter“ ist aber immer auch eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache - von einem der größten Meister deutscher Sprache in unserer Zeit.
Eine Liebeserklärung von einem deutschen Autor von Weltrang, der sich, auch mehr als ein Jahrzehnt nach dem Nobelpreis, so gar nicht entrückt und konserviert sehen möchte in Schullesebüchern und Gesamtausgaben, der sperrig bleibt, engagiert und streitbar.
„Die Wunden offen halten“, nennt er das gerne.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
mit Grimms Märchen habe ich begonnen, mit einem märchenhaften Happy-end möchte ich enden.
Mit einem märchenhaften Happy-end im Herbst des Jahres 2011 in der Eifel.
Es ist ein höchst reales Märchen vom langen, wie verhext ergebnislos scheinenden Warten. Es ist ein Märchen vom langen Irren im echolosen Wald von Anfragen über 14 Jahre hin. Ein Märchen, das grausam lange sein Happy-end verweigert hat, in dem verwunschene Wesen Zusagemails und erlösende Anrufe zu verhindern schienen. Mit Günter Grass als Mittelpunktfigur, mit Literaturkritikern und befreundeten Autoren als helfenden Nebenfiguren.
„Als das Wünschen noch geholfen hat“, habe ich mir oft gedacht mit dem Märchen „Der Froschkönig“ der Brüder Grimm. Und auch, dass Märchen zuweilen doch unerfüllbare Wünsche spiegeln.
Umso mehr freue ich mich, freuen wir uns, dass wir in diesem kleinen Prüm, fast schon umgeben von Grimmschen Märchenwäldern, nun doch ein Happy-end erleben - ausgerechnet mit den Märchenbrüdern Grimm und einem nobelpreisgekrönten Dichter von Weltrang.

Herzlich willkommen beim Eifel-Literatur-Festival und dem ersten Special seiner Geschichte:
herzlich willkommen in Prüm - Günter Grass.