Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede Dr. Josef Zierden zu Axel Hacke & Giovanni di Lorenzo

Daun, Forum, 24. Mai 2012

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Eines Menschen Zeit“: die Autobiographie des auflagenstarken Schriftstellers Peter Bamm stand immer noch hoch in den Bestsellerlisten, im Oktober 1973, da begann meine Zeit mit der „ZEIT“. Als ich Germanistik und Geschichte zu studieren begann im nahen Trier, da sollte sie zu meinem geistigen Rüstzeug gehören, die „ZEIT“. Als liberaler Gegenpol zur konservativen Tageszeitung „FAZ“, die ich damals ebenfalls zu lesen begann, vor allem aus Begeisterung über die Fülle der Buchrezensionen. Meine Zeit mit der ZEIT, im Oktober 1973 hat sie begonnen. Mit dem Roman „Das Vorbild“ von Siegfried Lenz als Werbeprämie - dem ersten, fieberhaft erwarteten neuen Roman von Lenz, fünf Jahre nach der legendären „Deutschstunde“. Die Welt der Werbeprämien für Zeitungsabonnements: Sie wusste damals noch nichts von einem MP3-Player oder von einem USB-Stick 8 GB als Datenbank für die Hosentasche. Aber sie kannte Bücher, anspruchsvolle Romane - und was wollte man mehr als  angehender Literaturwissenschaftler oder Deutschlehrer. Der Roman „Das Vorbild“ enttäuschte eher, wenn auch nicht als Verkaufserfolg. Er stand auf Platz 8 der Spiegel-Jahresbestsellerliste „Belletristik“ des Jahres 1973. Angeführt wurde sie von Peter Bamms Autobiographie „Eines Menschen Zeit“.

Der wahre Bestseller dieses Jahres, mein ganz persönlicher Longseller aber seither war und ist die Wochenzeitung „DIE ZEIT“. Seit fast 40 Jahren schon. Eines Menschen „ZEIT“, 40 Jahre Lesezeit: da kämpft man immer noch Woche für Woche mit dem übergroßen Papierformat, das immerhin das Chaos auf dem Schreibtisch gnädig zum Verschwinden bringt. Da bangt man jenseits des äußeren Formats auch schon mal um das innere Format, um den Geist der „ZEIT“. Da schwankt man auch schon mal als Abonnent, ob man die wöchentliche Lektüre nicht mehr aus ritualmäßiger Anhänglichkeit an jene frühen Studienjahre fortsetze und immer weniger aus innerer Überzeugung. Da jubelte man aber wieder und erneuerte auch fast verstaubte Lesertreue, als Giovanni di Lorenzo 2004 die Chefredaktion der ZEIT übernahm und dem betagten Flaggschiff des Holtzbrinck-Verlags frische Impulse und höhere Auflage bescherte.

Was nicht heißt, dass man sich nicht immer noch an ihr reiben kann, vor allem an dem Teil der Zeitung, den ich noch bei größter Zeitknappheit verschlinge: am Feuilleton. Wenn etwa Iris Radisch den atemberaubenden Roman „Atemschaukel“ von Herta Müller am 6. September 2009 als „kitschig“, „parfümiert“ und „kulissenhaft“ verdammte - jenes Meisterwerk, für das Herta Müller ja vor allem den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, die höchste Auszeichnung der literarischen Welt, fast exakt vier Wochen nach dem Totalverriss durch Iris Radisch in der „ZEIT“, am 8. Oktober 2010. Oder wenn Ulrich Greiner im Januar 2011 in Abrede stellte, dass der Meister der niveauvollen literarischen Unterhaltung, der millionenfach gelesene Schweizer Schriftsteller Martin Suter, überhaupt schreiben könne, dass der überhaupt ein Schriftsteller sei. Herrliche Arroganz der Literaturkritik, abgehoben - und doch nicht immer auf der Höhe der Zeit.
Warum diese kleine ZEIT-Reise durch 40 Jahre? Weil eben der Chefredakteur der ZEIT heute Abend unser Gast ist und mit ihm sein Freund, der Schriftsteller und Journalist Axel Hacke. Beide ebenfalls auf ganz persönlicher Zeitreise. Und um es zu beschleunigen und die Zeit zu raffen:
Alexander Hacke und Giovanni di Lorenzo untersuchen in ihrem Buch „Wofür stehst Du?“, welche Werte sie in ihrem Leben für wichtig halten. Welche Werte ihr Leben bestimmt haben - beide geboren etwa Mitte der 1950er Jahre. Selbstkritische Suchbewegungen sind es, die eigenen Lebenswege auslotend, zurückschreitend bis zur Generation der Eltern und Großeltern. Zurück auch in die politischen Untiefen des 20. Jahrhunderts. Erlebte Zeitgeschichte, Familiengeschichte, Individualgeschichte. Erzählt, reflektiert, analysiert, kommentiert. Rund um die Themenfelder Politik, Heimat und Fremde, Untergangsphantasien, Familie, Gerechtigkeit, Ängste und Helden. Dem moralischen Fundament der heute gut 50 jährigen Autoren auf der Spur. Wie sie wurden, was sie sind, wo und wofür sie heute stehen. Alles Andere als ein trockener Wertekanon oder ein abstrakter Tugendkatalog. Eine lebendige Zeitreise vielmehr, die am Ende die Frage aufwirft, die zu Anfang meiner Einführung und zu Anfang meiner langen Zeit mit der Zeit auch Siegfried Lenz aufgeworfen hat, im Herbst 1973: die Frage nach zeitgemäßen Vorbildern. Papst Johannes Paul II. kommt zur Sprache und sein langes öffentliches Sterben. Oder literarische Vorbilder wie Georges Simenon und Kurt Tucholsky. Und Roberto Saviano, der 2006 ein Buch gegen die Mafia geschrieben hat. Der sich seitdem verstecken, von hochbewaffneten Sicherheitskräften schützen lassen und um sein Leben fürchten muss. „Wir können vielleicht auf Helden verzichten, aber nicht auf Vorbilder wie Roberto Saviano“.
Das sind die letzten Worte des Buches, das uns heute Abend fesseln wird. Das sind die letzten Worte zweier Freunde, die gemeinsam auf die Suche gegangen sind nach dem, was Ihnen in ihrem Leben wichtig ist - und vielleicht auch uns wichtig sein sollte.

Herzlich willkommen beim 10. Eifel-Literatur-Festival 2012,
herzlich willkommen im Forum Daun: der bekannte Schriftsteller und Journalist Axel Hacke aus München und der Chefredakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT, der Mitherausgeber des "Tagesspiegel", der Moderator der Talkshow "3 nach 9"  und der tiefverqualmte Dauergesprächspartner des kettenrauchenden Altbundeskanzlers Helmut Schmidt - Giovanni di Lorenzo aus Hamburg.