Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede zu Fritz Pleitgen

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

was den Deutschen der Rhein ist, das ist den Russen der Don:
ein Mythos, ein Schicksalsfluss, ein Spiegel ihrer Seele, ihres Wesens, ihrer Geschichte, und immer auch Schauplatz großer Literatur.
Für Fritz Pleitgen, den Gast unseres heutigen Festivalabends und viele Jahr lang Russland-Korrespondent der ARD, für Fritz Pleitgen war es 30 Jahre lang der größte Traum, einmal einen Film über den Don zu drehen, den „Fluss der Kosaken“, von den Russen liebevoll „Väterchen“ genannt. Weil er die Menschen versorge und immer wieder auch schütze, etwa im Krieg.
Eine Reise auf dem Don, eine Dokumentation über den Don - nach seinen beeindruckenden Dokumentationen über den Kaukasus, den Bug und die Rocky Mountains.
Eine Reise auf dem Don: 2000 km lang, von der Quelle bis zur Mündung - von der Quelle 150 km südlich von Moskau bis zur Mündung ins Asowsche Meer. Eintausend Kilometer im Winter, eintausend Kilometer im Sommer. Eine Reise durch den Raum: durch die Dörfer, Städte und Steppenlandschaften am Don, durch die russische Provinz, weit weg von den Glitzermetropolen Moskau und St. Petersburg.
Immer aber auch eine Reise durch die Zeit: von der Zarenzeit über die Sowjetzeit bis hin zur Wendezeit nach 1989, in das Russland der Gegenwart, des Jahres 2007 - die Zeit der Dreharbeiten. Das Schnepfenfeld als Wiege des russischen Reiches im ausgehenden 14. Jahrhundert. Das Sofa von General Paulus als Reminiszenz an den mörderischen Russland-Feldzug Hitlerdeutschlands im 2. Weltkrieg. Der Wolga-Don-Kanal als Sinnbild Stalinschen Größenwahns und Stalinscher Brutalität seit 1949. Tausende von Sträflingen mussten ihn mit schwerster körperlicher Arbeit erbauen. Neu errichtete Klöster als Hinweis auf das Comeback der Kirche nach dem Niedergang des kommunistischen Imperiums im Jahre 1989.
Was für ein Literaturfestival besonders interessant ist: dass sich Pleitgen unentwegten von literarischen Zeugnissen berühmter russischer Schriftsteller der Vergangenheit und Gegenwart begleiten lässt: auf den ersten 1000 Kilometern vor allem von Lew Tolstoj und Ossip Mandelstam, auf den letzten 1000 Kilometern vor allem von Michail Scholochow - und immer auch von Viktor Jerofejew, im Russland der Gegenwart bekannt wie ein Filmstar oder ein Fußballstar. Lew Tolstoj: der mit Werken wie „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ das literarische Bild Russlands in der Welt wie kaum ein zweiter geprägt hat. Ossip Mandelstam: russischer Lyriker, wegen eines Spottgedichts über Stalin verhaftet und an den Don verbannt. Und Michael Scholochow schließlich: der schlagartig berühmt wurde mit dem breit angelegten Epos „Der stille Don“ - über das Schicksal der Donkosaken in den Jahren 1912 bis 1922. Von Stalin protegierte Galionsfigur der orthodoxen kommunistischen Sowjetliteratur, 1965 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet „für die Kraft und die künstlerische Gewissenhaftigkeit, mit welcher der Autor in einem Epos über das Dongebiet eine geschichtliche Phase im Leben des russischen Volkes geschildert hat“. So umstritten die Autorschaft bis heute ist: der Roman „Der stille Don“ 1928 bis 1940 in vier Bänden erschienen, bis heute das bekannteste und meistgelesene Werk der Sowjetliteratur - dieser Roman „Der stille Don“ für Fritz Pleitgen eine wesentliche Motivation, den Don von der Quelle bis zur Mündung mit der Kamera zu erkunden. Für viele ist eine „eine Enzyklopädie für Geschichte, Kultur und Natur“ der Don-Kosaken, deren Freiheitsliebe Stalin nicht traute. In 80 Sprachen übersetzt, in einer Auflage von 140 Millionen Exemplaren verbreitet.
Der Fluss Don, die Literatur über den Don, das Schicksal der Menschen am Don im alten und neuen Russland: in Fritz Pleitgens Filmdokumentation und in seinem Buch „Väterchen Don“ vereinigen sie sich zu einem eindrucksvollen Bild über den russischen Schicksalsfluss und seine freiheitsliebenden Menschen - allerbeste Völkerkunde.
Herzlich willkommen beim 9. Eifel-Literatur-Festival 2010, herzlich willkommen in der „Kulturscheune“ Welschbillig:
der erfahrene Russland-Kenner und ehemalige Moskau-Korrespondent der ARD, der legendäre Reisereporter und vorsitzende Geschäftsführer der Kulturhauptstadt Europas „Ruhr.2010“ - Fritz Pleitgen. ---