Festivalarchiv 2006 bis 2018

Anne Weber am 24. Mai in Bitburg

Einführungsrede von Dr. Josef Zierden

Mein sehr verehrten Damen und Herren,

die Festivalveranstaltungen im Festsaal von Haus Beda: auch 2016 sind sie literarische Kammerspiele. Da sind herausragende Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu erleben, die längst schon die Literaturkritik begeistert haben, die bedeutende Literaturpreise erhalten haben, die in renommierten Literaturlexika der Gegenwart ihren Stammplatz haben.

Büchnerpreisträger wie Felicitas Hoppe oder Friedrich Christian Delius, literarische Klassiker wie Ulla Hahn oder führende Federn der jungen Generation wie Anne Weber oder Judith Hermann.

Anne Weber, der Gast des heutigen Abends, gehört zu jenen Autorinnen, die lange schon als Geheimtipp der Literaturkritik gehandelt werden.

Schon seit ihrem Debüt „Ida erfindet das Schießpulver“,1999 erschienen - ein Buch über eine „eigenwillige Konventionsbrecherin“ und Anarchistin in 55 kurzen, teils absurd-komischen, teils ironisch-gesellschaftskritischen Kurz- und Kürzestgeschichten. Die titelgebende Denkfigur Ida ist „ein skeptisches Wesen mit einer tiefen Freude an der genauen Beobachtungen und am unerbittlichen Nachbohren“. Da erweist sich das Normalste der Welt, von allen Seiten betrachtet, rasch als grotesk und völlig abwegig. Wenn Ida ihr Unwesen treibt, werden mal eben die schwarzen Löcher im Weltall zu Abfalleimern umfunktioniert, dann entblößt sie beim Frauenarzt ihre drei Scheiden und zuletzt heiratet sie einen Wasserspeier. Erlebtes und Gesehenes sammeln, weiterdenken und erweitern, so nennt Anne Weber ihr literarisches Verfahren in ihrem Buchdebüt „Ida erfindet das Schießpulver“ des Jahres 1999.

Als ihr literarischer Durchbruch gilt Anne Webers sechstes Buch „Luft und Liebe“ (2010), ihr erster Liebesroman, angesiedelt in Paris - da wo Anne Weber seit 1983 lebt und arbeitet. Ein Roman um die große Liebe, das perfekte Glück. Träume vom gemeinsamen Leben, von Hochzeit und Kind erweisen sich als Luftschloss, als sie Realität werden sollen. Sie zerplatzen... Dabei geht es auch um einen Kinderwunsch der „Märchenprinzessin“, der auf natürlichem Wege nicht erfüllbar ist. Während sich die Ich-Erzählerin immer wieder mehreren Hormonbehandlungen unterzieht, verweigert ihr „Ritter“ in entscheidenden Momenten seinen Beitrag. Um das Rätsel der ausschweifenden Ausreden des „Ritters“ zu lösen, bricht die Ich-Erzählerin auf das Märchenschloss auf, wo sie auf die im siebten Monate schwangere Gattin trift. Die Rache am Märchenprinzen kann das Gruseln lehren. Sie wird zur ersten Befreiungsaktion für die Heldin.

Sind Teile ihres Werkes von Webers Überzeugung geprägt, Schreiben sei gerade nicht „das Ausdenken möglichst spannender, unterhaltender oder ergreifender Geschichten. Eher ein Hinsehen. Und ein Hinhören“, so findet Anne Weber mit „Luft und Liebe“ zum Geschichten-Erzählen, ohne Verzicht auf das Erproben neuer literarischer Formen. Mit dem Roman „Luft und Liebe“ und der „weiblichen Don Quijote“ erreichte Anne Weber erstmals ein breiteres Publikum.

Als ein weiteres Hauptwerk Anne Webers gilt der Roman „Tal der Herrlichkeiten“ des Jahres 2012. Im Zentrum steht eine tragische Liebesgeschichte im Spannungsfeld von Schicksal und Zufall, von Lebenden und Toten, mit Anklängen an die Geschichte von Orpheus und Eurydike. Zunächst angesiedelt in einem einsamen Küstenort in der Bretagne, wo ein männlicher Protagonist, eine Verliererexistenz auf der Suche nach einem wie auf immer gearteten Sinn auf offener Straße unvermittelt eine Fremde küsst - und festgefahrene Strukturen durchbricht. Die Wiederbegegnung und das Zusammensein in Paris enden tragisch - stirbt doch die weibliche Protagonistin bei einem Unfall. Im dritten Teil des Romans versucht der Geliebte vergeblich, die Geliebte aus dem Reich der Toten in das der Lebenden zurückzuholen. Der Roman „Tal der Herrlichkeiten“ umkreist die existenziellen Themen „Liebe und Tod“ und macht „das Jenseits erzählbar“, so der Literaturkritiker Ijoma Mangold von der „Zeit“.

„Ahnen“ nun, das Buch des heutigen Abends, ist Anne Webers neuntes Buch. „Ahnen“ - das ist ein doppeldeutiger Titel: der die Vorfahren meint, auf deren Spuren sich die autobiografische Erzählerin begibt. Und der auf die Vermutungen anspielt, auf die die Erzählerin bei ihren zeitentiefen Recherchen nach Herkunft, Identität und Zusammenhängen angewiesen ist.

Der fernen, fremden Welt ihres Urgroßvaters Florens Christian Rang (1864- 1924) gilt die persönliche Erkundungsreise der Urenkelin.

Der war erst Jurist, dann evangelischer Pfarrer in zwei Dörfern in Posen. Zudem Schriftsteller und Philosoph, der mit bekannten Zeitgenossen wie Hugo von Hofmannsthal korrespondierte und mit Martin Buber und Walter Benjamin befreundet war.

Er selber ist heute weitestgehend in Vergessenheit geraten.

„Zeitreisetagebuch“ heißt die Genrebezeichnung des Buches. Dabei folgt der Text aber nicht einer tagebuchähnlichen Abfolge von Tagen oder einer allgemein-historischen Chronologie. Eher ist das teils essayistische, teils poetische Buch geprägt von assoziativen Sprüngen durch Zeit (vier Generationen) und Raum (drei Länder).

Das Wort „Zeitreise“ weist auf die große zeitliche Distanz zwischen dem Urgroßvater, der 1864 geboren ist, und der Urenkelin, die 1964 geboren ist. Und er verweist auch auf das Dynamische der Annäherung, auf erzählerisches Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen, auf Umwege und Abzweigungen, auf das prinzipiell Unabgeschlossene der historisch-poetischen Erkundungsreise bis hinab ins Kaiserreich. Als einen „Weg“ denkt sich Anne Weber die Zeit, als einen Weg, der zugleich trennt und verbindet. Und der geprägt ist von einem Riesengebirge dazwischen, dem „Dritten Reich“, das sich zwischen den Urgroßvater und der nachgeborenen Urenkelin legt.

 

Wollte der Urgroßvater Polen germanisieren? Hat er der späteren Euthanasie das Wort geredet? Wie konnte es dazu kommen, dass Rangs Sohn Nazi wurde? Und wie kommt es, dass die Vätergeneration nach 1945 so lange zum Dritten Reich geschwiegen hat?

Und auch: Kann man sich überhaupt in ferne Zeiten, in verstorbene reale Personen hineinversetzen?

Das sind nur einige der Fragen, die Anne Webers literarische Zeitreise „Ahnen“ aufwirft. Sie ist geprägt von Faktenrecherchen in Archiven und vor Ort, von Gedankenspielen, Sprachanalysen und Selbstreflexionen.

 

Herzlich willkommen beim 12. Eifel-Literatur-Festival,

herzlich willkommen im Festsaal von Haus Beda -

die literarische Zeitreisende und hochkarätige Poetin,

längst mehr als ein Geheimtipp: die deutsche Schriftstellerin Anne Weber aus Paris.