Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede zu Ulla Hahn

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ein Vierteljahrhundert ist es nun her, dass Ulla Hahn ihren ersten Gedicht-Band veröffentlicht hat: „Herz über Kopf“, 1981 erschienen.
Es war ein Debüt, das Literaturgeschichte geschrieben hat.
In Windeseile stürmten da Gedichte, ausgerechnet Gedichte die Bestsellerlisten, und machten eine Lyrikerin, ausgerechnet eine Lyrikerin mit einem Schlag berühmt, ja populär.
Ein Senkrechtstart war es, ein kometenhafter Aufstieg - allerdings unter besten Bedingungen: denn nicht zuletzt Marcel Reich-Ranickis hymnisches Lob katapultierte Ulla Hahn empor. Marcel Reich-Ranicki, damals vielgefürchteter Literaturchef der FAZ - er schwärmte förmlich: „Ein artistisches Bewußtsein und ein leidendes Temperament beglaubigen sich hier gegenseitig, Virtuosität und Spontaneität, Schmerz und Stil finden zu einer poetischen Einheit. Ulla Hahn beweist uns - und das ist schließlich das Wichtigste -, daß deutsche Gedichte auch in unseren Tagen schön sein können.“
Verehrer wie er bewunderten an der Lyrik Ulla Hahns das außerordentliche Talent und Feingefühl, den frischen Ton, den Wohllaut und die Harmonie, den souveränen, ja geradezu furios-artistischen Umgang mit der poetischen Tradition, mit klassisch-romantischen Themen und Versformen vom Minnesang bis zu Heinrich Heine. Ein wohltuender Kontrast zu so manchen formal eher dürftigen Gedichten der 70er Jahre. Liebesgedichte seien es, die „zu den schönsten der deutschsprachigen Lyrik gehören“, jubelte man und feierte den kometenhaften Aufstieg einer jungen Lyrikerin. Es regnete geradezu Literaturpreise...
Aber es entzündete sich auch eine lebhafte literaturkritische Kontroverse ausgerechnet an der zeitgenössischen Lyrik, nicht zuletzt an der so erfolgreichen Lyrik der Ulla Hahn.
Kritiker, die sich eher als politisch links-stehend verstanden, brandmarkten die Wiederbelebung traditioneller Gefühlspoesie, die Verwendung herkömmlicher Formen, Bilder und Vokabeln als rückwärtsgewandt, als Flucht vor den Krisenerfahrungen der poetischen Moderne. Von einer poetischen Restauration des Schönen sprach man, die vergangenheitsselig sei statt gegenwartsbezogen, privatistisch statt politisch engagiert,
Die - vielfach wohl auch neidgetränkte und ideologiegenährte - Hoffnung dieser Verächter, dass der poetische Komet Ulla Hahn rasch verlöschen möge, war - gottlob - trügerisch.
Denn mit mehr als 50.000 verkauften Exemplaren zählt „Herz über Kopf“ bis heute zu den meistverkauften Lyrikbänden in Deutschland.
Und nach inzwischen zehn Gedichtbänden, drei Romanen und neuerdings einem Erzählband gilt Ulla Hahn längst schon als eine der bekanntesten, bedeutendsten und meistgelesenen Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Da hat sich eine Autorin unbeirrt durchgesetzt, die immer schon als streitbar und mutig galt - und es in ihrem Leben von früh auf sein musste.
Denn Ulla Hahns Weg zur Literatur, zum Schreiben war mühsamer, war langwieriger, als der stürmische Debüterfolg „Herz über Kopf“ der damals 35 jährigen Autorin ahnen lässt.
Wer ihren Lebensweg kennt, weiß, dass ihr nichts weniger in die Wiege gelegt worden ist als die Aussicht, einmal als freie, erfolgreiche Schriftstellerin leben und arbeiten zu können.
Denn die heute in Hamburg lebende Autorin, verheiratet mit dem ehemaligen Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi - sie wurde 1946 im sauerländischen Brachthausen geboren, als Kind eines Hilfsarbeiters und einer Hausfrau. Sie wuchs auf in Monheim am Rhein, im Rheinland also nördlich von Köln. Nach der Realschule machte sie eine Bürolehre, ehe sie 1964 auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur nachholen konnte. Danach studierte sie Germanistik, Soziologie und Geschichte in Köln. Um 1970 veröffentlichte Ulla Hahn erste Gedichte. Sie promovierte 1978 zum Thema „Operative Literatur in der BRD“, also gerade zu den Möglichkeiten der Literatur, politisch direkt einzugreifen.
Die promovierte Germanistin Ulla Hahn übernahm Lehraufträge an den Universitäten in Hamburg, Bremen, Oldenburg und Heidelberg. Von 1979 bis 1991 war sie Kulturredakteurin bei Radio Bremen.
Einen Großteil dieses Lebenswegs hat sie literarisch gespiegelt in ihrem autobiographischen Roman, der bis heute ihr erfolgreichstes episches Werk ist: „Das verborgene Wort“, 2001 erschienen. Da lässt sie atmosphärisch dicht und bilderreich erstehen:
- eine niederdrückende Kindheit und Jugend im Nachkriegsdeutschland der 50er und 60er Jahre, in der Adenauer-Ära,
- die lähmende Atmosphäre, den erstickenden Mief eines rheinischen katholischen Dorfes,
- das verständnislose, lieblose Elternhaus einer Hilfsarbeiter-Familie,
- dem sich das Mädchen Hildegard/Hilla allein durch das „verborgene Wort“ entziehen kann. Der Großvater weckt ihre Liebe zu Geschichten, der Vater ist Analphabet. Allein das geschriebene Wort, die Bücher, die Literatur weisen dem intelligenten und phantasievollen Mädchen Hildegard den Weg aus der Enge in die Welt, werden ihr zur überlebensnotwendigen Gegenwelt. Im Hineinwachsen in die Sprache vollzieht sich das Hineinwachsen in die Welt. Mit dem vorangestellten Romanmotto gesprochen, einer 1500 Jahre alten Eintragung auf einer mesopotamischen Wachstafel: „Mit Schreiben und Lesen fängt eigentlich das Leben an“.
So erzählt Ulla Hahns Hymne auf das verborgene Wort, mit Kathrin Pitterling gesprochen, von einer Frau, die schon als Kind gegen die Konventionen ihrer Schicht und ihrer Zeit kämpfte, in der für ein Mädchen eine Schriftstellerkarriere nicht vorgesehen war; und sie erzählt von einem geradezu märchenhaften Aufstieg eines proletarischen Aschenputtels zu einer Erfolgsautorin. Da wünschen wir uns natürlich sehr eine Fortsetzung dieses so erfolgreichen Romans. Und bedauern lediglich, dass aus dem überbordenden Manuskript die Eifelepisode mit einer sehr lebendigen Tante herausgestrichen werden musste.
In dieser Eifel jedenfalls, gar nicht so weit von ihrer rheinischen Heimat, von ihren Ursprüngen und Wurzeln entfernt, begrüßen wir Sie heute Abend recht herzlich - und natürlich auch ihren Bruder mit seiner Frau: beim 7. Eifel-Literatur-Festival 2006.
Wären wir nicht vom Fürstensaal des Regino-Gymnasiums in das Haus der Kultur umgezogen, dann würde ich jetzt von den labyrinthischen Tiefen der Klosterbibliothek reden, von dem magischen Ort des geschriebenen Worts gewesen ist. Aber auch die imposante Zentralbücherei der Verbandsgemeinde hier in diesem Haus ist ein Ort des Buches, des Lesens, der Literaturvermittlung, so dass wir uns heute Abend hier ganz zuhause fühlen können, nahe dem gedruckten Wort.
Erlauben Sie mir aber, meine Ausführungen mit einem passenden Gedicht von Ulla Hahn abzuschließen:
„Dichterlesung
Eine Schulklasse kichernd in den hinteren Reihen
Lyrik Leistungsstufe eins: Bildlich gesprochen
Und nun suchen sie live zu erfragen:
Was will uns der Dichter damit sagen?

Da sitzt sie buchstäblich, ziemlich klein
und schon grau und die Schuhe!

Sonst sind wie immer mehr Frauen gekommen
Kinder ausm Haus und jetzt musenverliebt leib-
und seelenvergnügt, fühlen sich viel zu jung
für ihr Alter und gehen in erdnahen Schuhen wie ich.

Auch herr E. Litère ist da. An seinem Mangel
an Muskulatur erkennbar, bebrillt und in höhere
Bildung gebettet:
Hätten Sie den zweiten Hyndekasyllabus nach dem dritten
Hendiadyoin
nicht onomatopoetisch transferierend transzendieren müssen?

Nah der tür - damit sie’s, wenn’s sein muß, aufs Klo schafft -
das alte Paar: so ähnlich einander so innig verschmolzen
wie Wort und Dinge im Gedicht.

Hufe scharren. Ich setze mich gerade: auch mein Pegasus
ist nur ein Pferd unter Engeln.
Mal hören, ob er heute abend fliegt.

Herzlich willkommen in Prüm - Ulla Hahn!