Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede zu Friedrich Christian Delius

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wer kennt nicht die Birnen des Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland?
Oder besser: jene Ballade von Theodor Fontane, 1889 entstanden. Sie hat - in der Gestalt des alten, birnenspendenden Ribbeck - der Menschlichkeit und Güte, die den Tod überdauern, ein literarisches Denkmal gesetzt.
Fontanes Balladenbaum - er steht auch im Mittelpunkt der Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“ von Friedrich Christian Delius, 1991erschienen.
Es ist sein literarischer Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung. Gleich hundertfach, mit drei Omnibussen und 50, 60 Autos fallen da im Jahr der deutschen Einheit 1990 Westtouristen im verschlafenen Dörfchen Ribbeck westlich von Berlin ein: mit hämmernder Musik, mit „starken Motoren“, mit „breitachsigen, herrischen Fahrzeugen“, mit Birnenschnaps und Bier, mit Würstchen und Luftballons, mit Kugelschreiber und Erbsensuppe - und einem jungen, neuen Birnbaum aus dem Westen. Der wird, ohne die einheimischen Ribbecker groß zu fragen, beim alten Schloss eingepflanzt, ja fast schon wie eine Fahne im eroberten Gebiet in den Boden gerammt - hundertfach umjubelt und fotografiert, mit immer neuen Hochs auf den Ribbeck und seinen Birnbaum und den alten Fontane, der das Dorf zum berühmtesten Dorf im Havelland gemacht hat - und jetzt zur Touristenattraktion nach dem Fall der Mauer.
Die Besucher als Besatzer, die Wessis als Eroberer, die Gäste aus dem Westen als selbsternannte Gastgeber im Osten, die Ribbecker Bauern als pure Statisten zum Birnbaum - solche Empfindungen überkommen den Ribbecker Bauernerzähler.
Der nutzt „die neu gewonnene Redefreiheit vor deutsch-deutschem Publikum zu einer Geschichtsstunde der besonderen Art“: „Geschichte von unten, erlebt, erinnert, erlitten“, wie Gustav Zürcher schrieb.
Ein schwindlig machender Bilderreigen der Geschichte umwirbelt den Birnbaum, mit einem endlosen Auf und Ab von Unterdrückung und Befreiung, von Krieg und Frieden durch die Jahrhunderte. Adlige und Nazis, Sozis und Wessis haben da - in der Kontinuität von Herrschaft und Unfreiheit - aus ostdeutscher Sicht zuweilen mehr gemeinsam, als ihnen lieb ist.
Die gute alte Zeit jedenfalls, die die Touristen und Journalisten aus dem Westen in der Figur des alten Lesebuch-Ribbeck suchen, diese gute alte Zeit hat es nie gegeben.
Diese gute alte Zeit gab es nicht in Zeiten feudaler Leibeigenschaft, als ein Gutsherr Birnen spendete an Kinder höriger Bauern, die keine Aussicht hatten auf ein Schloss unter märkischem Himmel oder auch nur auf ein weißes Federbett.
Diese gute alte Zeit gab es nicht in Zeiten der untergegangenen DDR, als doch der freie Bauer Herr auf freiem Boden sein sollte. Aber der Mangel wurde so planvoll missverwaltet, dass schon der Gedanke an feudale Großzügigkeit, schon die sagenhafte Erinnerung an einen freundlichen Feudalherrn der Partei als gefährlich galt.
Und der Birnbaum West, bei der Jubelfeier eingepflanzt, und der Birnbaum-Ost, länger schon von den Ribbeckern gepflanzt - in der Vereinigung, Veredelung und Vermehrung dieser beiden Propfpartner spiegelt sich symbolschwer das schwierige Zusammenwachsen von Deutschland Ost und Deutschland West.
Wo die Vereinigungswunden liegen und warum der Wachstums- und Heilungsprozess lange dauern wird, das beleuchtet schon im Jahre I der deutschen Wiedervereinigung, 1991, die Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“ von Friedrich Christian Delius eindringlich. Man hätte es lesen, man hätte es wissen können.
Die Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“ - sie ist typisch für Delius, zeigt sie ihn doch einmal mehr
- als einen virtuosen wie sprachbewussten Erzähler,
einen der bedeutendsten, den wir in Deutschland
haben;
- als einen kritischen Chronisten deutscher
Geschichte,
- der ideologisch unvoreingenommen mit
Geschichtslegenden aufräumt,
- dem es um politische Aufklärung geht,
- an Brennpunkten deutscher Geschichte,
- und immer wieder an der Nahtstelle von Deutschland
Ost und Deutschland West, wo er - in Berlin - lange genug gelebt und gearbeitet hat.
- Vielfach biographisch gefärbt.
Um den „Deutschen Herbst 1977 geht es da in einer Romantrilogie, also um den Terrorismus, seine Entstehung und seine Folgen - und um Innenansichten der Macht in Zeiten der Krise.
Oder um die Umbruch- und Aufbruchphase um 1968, die Zeit der Studentenrevolte mit den ersten Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg in Berlin, den ersten Sit-ins vor dem Amerikahaus, bei dem die ersten Eier flogen (in der Erzählung „Amerikahaus und der Tanz der Frauen“).
Oder es geht um den nationalen Jubelsonntag, den legendären Endspielsonntag der Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern: also um das neue Selbstbewußtsein einer Nation der Besiegten und zugleich um die autoritäre Enge in der Provinz der 50er Jahre: aus der ein elfjähriges, schüchternes evangelisches Pfarrerskind für die Dauer einer wortgewaltigen Fußballreportage flüchtet - in die Arme eines glanzvollen „Fußballgotts“.
Oder er erzählt die spannende und komische Geschichte eines kritischen DDR-Bürger der Vorwende-Zeit 1981. Der endlich einmal etwas von der Welt sehen will, der reisen will, um bleiben zu können.
Oder er führt in die Zeit des Kalten Krieges nach 1945, in der man zwischen alle Fronten geraten konnte: wo ein ehemaliger Nazirichter ungeschoren davonkommt, während die Witwe eines hingerichteten Widerstandskämpfers als kommunistische Hexe verschrien und in eine Kette von Justizskandalen verstrickt wird.
Mit seinem jüngsten Buch, „Bildnis der Mutter als junge Frau“, greift Delius wieder seine eigene Familiengeschichte auf und verwebt in der Schilderung eines sonnigen Januartags 1943 den Zauber Roms mit den Ängsten des Krieges und einer einfühlsam geschilderten Liebesgeschichte, das Zentrum der Christenheit gesehen mit protestantischen Augen, einen Gang durch das „ewige Rom“ mit Luther und Wartburg im Kopf - wieder in einem einzigen Satz erzählt und verzwirnt wie die „Birnen von Ribbeck“.

Seit Mitte der 60er Jahre, seit mehr als 40 Jahren also, schreibt dieser Mann mit dem Vornamen, der an einen Fußballverein erinnert - F.C. Delius - seit mehr als 40 Jahren also schreibt er Bücher, seit fast 30 Jahren lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller. Und hat sich seither so produktiv und vielseitig entfaltet wie kaum ein anderer deutscher Autor: mit Gedichten, Dokumentarsatiren, Romanen und Erzählungen, von politischer Aktionskunst bis hin zu klassischen Erzählformen.
Der legendären Gruppe 47 hat er angehört, als einer der Jüngsten. Schon 1964, gerade mal 21jährig, war er in Sigtuna in Schweden dabei. Und 1990 wurde die letzte Lesung am letzten Tag der letzten Tagung der Gruppe 47 in Dobrs bei Prag von ihm gehalten - aus der Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“.
Selbst die Eifel hat er literarisch gestreift, gleich in seinem ersten Roman „Ein Held der inneren Sicherheit“: „Eifel, wirklich eine tolle Gegend zum Verstecken, die weiten und wenig übersichtlichen Waldgebiete, Offensiven Defensiven weltkriegerprobt, Sraßenverbindungen gut, Nachbarländer zum Ausweichen, Verwischen der Spuren auf den knüppelharten Wegen oder Schlammwegen, die jeden Stadtpolizisten abschreckten“, heißt es da nach der Entführung eines Arbeitgeberpräsidenten im Herbst 1977.
Sehr geehrter Herr Delius, wo man Menschen verstecken kann, da kann man sie auch öffentlich präsentieren. Wo Terroristen hätten untertauchen können, da präsentieren wir doch gerne einen literarischen Anwalt der Freiheit und der Gewaltlosigkeit.
Herzlich willkommen in der Eifel, im Kloster Himmerod, an geschichtswürdiger Stelle - das geschichtsbewusste protestantische Pfarrerskind, das in Metropolen wie Berlin und Rom zuhause ist:
herzlich willkommen beim 7. Eifel-Literatur-Festival Friedrich Christian Delius.