Festivalarchiv 2006 bis 2018

Wolfgang Herrndorf am 10.06.2008 in St. Vith

Einführung von Dr. Josef Zierden, Eifl Literatur Festival

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

lassen Sie mich mit meinem Lieblingszitat aus der Literatur beginnen - mit einigen wenigen Sätzen aus der Kurzgeschichte „Die Letzten vom Schwarzen Mann“ von Alfred Andersch, der das deutsch-belgische Grenzgebiet so sehr geliebt hat:
„Die Straße führte oben auf den Kamm hinauf, und von dort aus hatte man einen endlosen blick über einen Ozean von flachen Tälern und Wäldern, die aus dem Westen herandrängten, von St. Vith und Malmédy. Ein ziemlich geographisches Gefühl. Roland liebte Grenzen, weil an ihnen die Länder unsicher wurden. Sie verloren sich in Wäldern, zerfransten sich in Karrenwegen, die plötzlich aufhörten, in Radspuren, in Fußpfaden, unterm hohen gelben Gras, verrufenen Gehöften, Einsamkeit, Verrat und Bussardschrei. Schnee-Eifel hieß das, Ardennen, Hohes Venn...“. Ein wenig von dieser Entgrenzungssehnsucht gerade im deutsch-belgischen Grenzgebiet, von der Sehnsucht nach Überschreitung, Auflösung und Vermischung von Grenzen treibt auch das Eifel-Literatur-Festival an: gerade in einem Jahr, in dem es in 10 Landkreisen der Eifel stattfindet; gerade bei Fahrten über die sichtbarste wie inzwischen auch wieder unsichtbarste Grenze: die deutsch-belgische. 20 Fahrminuten dauert die Wegstrecke von Prüm nach St. Vith, viele Jahre hat es gedauert, bis das Festival den Weg von seinem Zentrum Prüm bis in die Nachbarstadt St. Vith gefunden hat.
Heute immerhin können wir eine Doppelpremiere begehen:
erstmals fasst das Eifel-Literatur-Festival Fuß auf ostbelgischem Boden,
und erstmals kooperieren wir - von Start weg - grenzüberschreitend beim Internationalen Eifel-Literatur-Förderpreis.
Das ist schon ein mutiges wie ermutigendes Unterfangen für eine kleine Gemeinschaft wie die DG Belgiens, gerade einen Preis für noch wenig bekannte junge Literatur zu stiften.
Es ist nicht der erste Literaturpreis, den Wolfgang Herrndorf - 1965 in Hamburg geboren und jetzt in Berlin lebend als Schriftsteller, Maler, Illustrator - es ist nicht der erste Literaturpreis, den Wolfgang Herrndorf erhalten hat. 2004 bekam er beim berühmten Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb den Publikumspreis für eine Vorform der Geschichte „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Für den gleichnahmigen Erzählband, der 2007 erschien, wurde er Mitte Januar 2008 mit dem erstmals vergebenen Deutschen Erzählerpreis ausgezeichnet. Begründet mit seinem „ironischen und melancholischen Spiel mit zeitgenössischen Wirklichkeiten, seien es nun die Milieus von Werbeagenturen, Literatenzirkel oder die asozialen Ränder Ostdeutschlands“.
Gut einen Monat zuvor, Anfang Dezember 2007, ist ihm der 1. Internationale Eifel-Literatur-Förderpreis, gestiftet von der DG Belgiens, zuerkannt worden. Er gilt dem „nüchternen Romantiker (...). Seine Figuren hängen durch, aber sie geben nicht auf. In witzigen Dialogen, überhaupt mit viel Komik, aber mit noch mehr Sympathie, beschreibt Herrndorf eine Generation, die ihr Leben lang auf der Schwelle steht“, so die Begründung der Juroren Volker Hage („Der Spiegel“), Sigrid Löffler („Literaturen“) und Martin Lüdke („SWR“), renommierte Literaturkritiker allesamt.
Herrndorfs Figuren: es sind „Spätaufsteher des Lebens“, wie es das Deutschlandradio formulierte, die „Generation Praktikum“, wie Jury-Vorsitzender Martin Lüdke einmal geschrieben hat: „Typen, die keine Arbeit haben, aber immer auf der Suche sind. Nach abgeschlossenem Studium und zusätzlichen Qualifikationen hoffen sie auf ein Volontariat. Sie werden älter, aber es wird nichts aus ihnen. Keine Aussichten, nirgendwo. Sie hängen durch, weil man sie hängen lässt. Doch sie haben trotzdem ihren Spaß und zum Teil sogar gute Einfälle.“ Trübe Aussichten, aber eine gute Stimmung. Menschen um die vierzig, deren jugendlicher Lack allmählich abblättert. Eine Generation, die nicht mehr durch Ardennensturm oder Stahlgewitter muss, von denen Alfred Anderschs Erzählungen noch wissen, sondern nur noch durch „Plüschgewitter“, so der Titel des ersten Erzählbands aus dem Jahre 2002. Und der Titel des zweiten Erzählbands: „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ aus dem jahre 2007? Das meint jenen Strahlungsgürtel, jene radioaktive Luftschicht in mindestens 600 Kilometern Höhe um die Erde, die kein Mensch lebend durchqueren kann - behauptet zumindest der Mann, der die Mondlandung für eine Lüge hält, für eine Inszenierung von Hollywood-Studios.
Und der, selber längst ohne Hoffnung, den Traum eines 13 jährigen Jungen von der Raumfahrt zerstört, seine Hoffnungen, seine Sehnsüchte.
Es passt zu den aktuellen EM-Zeiten, dass Wolfgang Herrndorf als Schriftsteller gilt, der zuweilen viel lieber Fußball spielt als schreibt. Das sei eine Tätigkeit, die ihn auf unkomplizierte Weise glücklich mache - wie sonst wohl nur eine Lesung, möchte ich ergänzen.
Wie auch immer: Ich freue mich, dass wir erstmals in der DG Belgiens, in St. Vith zu Gast sein dürfen; dass wir so viel Unterstützung in so kurzer Zeit gefunden haben; und dass wir nur hier, in St. Vith, das Glück haben, einen der beiden Preisträger 2008 bei einer Lesung erleben zu dürfen.
Möge der Start von St. Vith der Auftakt einer langen guten Zusammenarbeit werden.
Ich danke Ihnen!