Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede zu Stefan Hertmans am 31. August 2018 in Bitburg

Von Dr. Josef Zierden

Dr. Josef ZierdenMeine sehr geehrten Damen und Herren,

der „Mont Ventoux“, der „Berg des Windes“, ist ein Bergmassiv in der französischen Provence.

Mehr als 1900 Meter hoch.

Sportsfreunden ist er ein Begriff durch die Tour de France, seiner legendären Steigung wegen. Literaturfreunden ist er bekannt durch den berühmten Gipfelaufstieg des italienischen Humanisten und Dichters Francesco Petrarca im April 1336.

Die Schilderung Petrarcas gilt als Ausdruck einer derart neuen, diesseitsbezogenen Natur- und Landschaftserfahrung, dass einige Forscher darin einen "Schlüsselmoment an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit“ ansehen.

Der Schriftsteller Stefan Hertmans, der in der Nähe von Brüssel lebt, hat in der Provence, in der kleinen französischen Gemeinde Monieux unweit des Mont Ventoux, schon lange seine zweite Heimat. Als Stefan Hertmans erfuhr, dass sein lavendelduftendes Paradies vor tausend Jahren Jahren Schauplatz eines Judenpogroms durch die ersten Kreuzritter war und dass unter den Überlebenden eine junge Frau christlicher Herkunft war - da begann er eine intensive, viele Jahre dauernde Suche auf den Spuren dieser Frau.

Entstanden ist eine eindrucksvolle Geschichte von Liebe, Gewalt und religiöser Verfolgung. Von einer Frau, die für ihre Liebe zum Sohn des Rabbi ihre Existenz aufs Spiel setzt. Die alles hinter sich lässt: „Sicherheit, Vermögen, Ansehen, Zukunft, guten Namen“. Rar sind Ende des 11. Jahrhunderts, zur Zeit der aufkommenden Kreuzzüge, die Inseln der Toleranz, der Offenheit, der Dialogbereitschaft zwischen den Religionen und Kulturen auch in Frankreich.

Umso stärker zieht der aufkommende religiöse Fanatismus eine Spur von Tod und Verwüstung durch Europa und ins Heilige Land. Monieux nahe dem Mont Ventoux: Hier findet die Liebe von Vigdis und David nach langer Flucht einen Zufluchtsort. Und hier entfesselt Jahre später ein Judenpogrom eine unvorstellbar blutige Gewalt, der David zum Opfer fällt und die Vigdis einmal mehr zur Flüchtenden macht.

Ein Leben auf der Flucht, Religionskriege und Intoleranz, Gewaltexzesse im Namen Heiliger Kriege, Fremdheit als ständiger Begleiter auf der Überlebensodyssee von Frankreich ins Heilige Land: Hertmans entfaltet in erschütternden Eindringlichkeit ein historisches Schicksal, ein historisches Zeitpanorama, das mühelos die tausend Jahre bis in unsere Gegenwart überbrückt.

So ergreifend ist der Roman, so überragend in seiner poetischen Imagination und Sprachkraft, dass man sich fragt: Warum hat man von diesem Stefan Hertmans in Deutschland noch nicht mehr gehört?

Es besteht Einigkeit in literarischen Kreisen, dass Stefan Hertmans, 1951 im belgischen Gent geboren, einer der wichtigsten, renommiertesten und einflussreichsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart ist. Dass er zu den großen Schriftstellern der europäischen Literatur zählt. Ja, dass er ein wahrhaft europäischer Schriftsteller sei, nicht nur, weil er Belgier sei, der auf Niederländisch schreibe und in Brüssel sowie im südfranzösischen Monieux lebe. 1981 schon hat er seinen ersten Roman vorgelegt, vor 37 Jahren.

Er ist Gast internationaler Literaturfestivals, er wird überschüttet mit renommierten Literaturpreisen.

Seinen großen Durchbruch scheint dieser belgische Romancier, Lyriker und Essayist aber erst mit dem Roman „Der Himmel meines Großvaters“ erzielt zu haben. 2013 im niederländischen Original erschienen, 2014 in der deutschen Ausgabe bei Hanser Berlin.

Ein Buch über Hertmans Großvater, der als Kind bei der harten Arbeit in einer Eisengießerei davon träumt, Maler zu werden wie der Vater. Aber stattdessen wird er bald als Frontsoldat nach Westflandern geschickt.

Mit dem Leben seines Großvaters zeichnet Stefan Hertmans zugleich die Tragödie eines Jahrhunderts: über einen „flämischen Jedermann im Ersten Weltkrieg“, wie Deutschlandradio in einer Buchbesprechung titelte. Der überlebt zwar das Grauen des Krieges, geht aber fast zugrunde am Verlust seiner großen Liebe.

Unter dem Titel „Krieg und Terpentin“, der dem niederländischen Originaltitel sehr viel näher kommt, ist Ende März 2018 die Taschenbuchausgabe dieses Romans im Diogenes-Verlag Zürich erschienen.

Zwei Romanübertragungen von Stefan Hertmans in den letzten fünf Jahren - damit steht die Wirkungsgeschichte des großen belgischen Autors in Deutschland eigentlich erst am Anfang - bei einer schriftstellerischen Schaffenszeit von fast 40 Jahren.

Umso mehr freuen wir uns, ihn heute begrüßen zu können.

Herzlich willkommen beim 13. Eifel-Literatur-Festival 2018,

herzlich willkommen im Festsaal von Haus Beda zu Bitburg: der belgische Autor von europäischem Rang - Stefan Hertmans! ***