Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede Dr. Josef Zierden zu Donna Leon

Bitburg, 6. Juni 2012

Geheimnisvolles Venedig! Nicht Land, nicht Wasser.
Königin der Meere, auf Millionen von Pfählen errichtet in einer Lagune. Eine steinerne Insel. „La Serenissima“ - „Die Durchlauchtigste“. Einst Königin der Meere.

Eine labyrinthische Welt: der Kanäle und Brücken, der Gassen, Plätze und Palazzi - und der schnellen Vaporetti und der majestätischen, tiefschwarzen Gondeln.

Venedig: Wo die Gondeln Trauer tragen, jedenfalls im fesselnden Alptraum aus Schwarz und Blutrot, auf Celluloid. Venedig: Wo ein inzwischen weltberühmter Commissario Guido Brunetti geboren und aufgewachsen ist, der die Besonderheiten dieser Stadt und ihrer Bewohner kennt wie kein Zweiter.
Der zumindestens auf seinen nächtlichen Nachhausewegen die frühere Pracht Venedigs erahnt. Wenn die Dunkelheit das Moos auf den Stufen der Palazzi entlang des Canale Grandes verbirgt - oder die Risse und den bröckelnden Putz an Kirchen und Palästen. Wenn die Stadt im trügerischen Mondglanz verschwundene Schönheit wiedererlangt und Menschen und Dingen einen geheimnisvollen Zauber verleiht.

Commissario Brunetti, Commissario di Polizia in Donna Leons weltberühmten Venedig-Krimis: mit ihm lernen wir die Licht- und Schattenseiten der Serenissima kennen - Schönheit und Verfall, Glanz und Elend, Armut und Reichtum, Touristenidylle und blutige Gewalt, und immer wieder den Filz von Korruption, Betrug und Mord.
Ein weltberühmter Dirigent tot in Venedigs Opernhaus La Fenice. Eine aufgedunsene Leiche in einem stinkenden Kanal. Die Leiche eines Mannes in Frauenkleidern beim Schlachthof vor Mestre. Ein junger Mann, erhängt in der Dusche der Kadettenschule von San Martino. Der Tod eines Schwarzafrikaners auf dem Campo Santo Stefano. Und jüngst: der Tod einer alten Dame am Campo San Giacomo dell‘ Orio in Santa Croce. Alle diese Mordfälle machen mit den Kehrseiten der Serrenissima vertraut: mit Umweltskandalen, Drogen, Prostitution und Menschenhandel, mit Kindesmissbrauch, mit missbrauchten Frauen, mit Asylproblemen und tagtäglicher Korruption. 
Und mitten im Sumpf dieser moralisch-politischen Fäulnis, zwischen glitzernden Dächern und den dunklen venezianischen Kanälen, beständig unterwegs von seiner Wohnung am Campo San Polo über die Rialtobrücke zur Questura, dem Polizeipräsidium, und zu den vielen Tatorten in Venedig: das ist der legendäre Commissario Guido Brunetti. Ein Bild von einem italienischen Mann, ein sanfter, feinfühliger Ermittler. Höflich und kultiviert, ein treuer Gatte und liebenswürdiger Familienvater. Dem jede Gewalttätigkeit fernliegt. Der lieber Dante liest oder römische und griechische Klassiker wie Tacitus oder Aischylos.
„Ein Mann, der wie eine Frau denkt und so wohl nur von einer Frau geschrieben werden konnte“, sagte einmal seine Schöpferin Donna Leon über diesen Guido Brunetti.

Und dieser Brunetti und Donna Leon, weltberühmt geworden mit ihren Brunetti-Krimis: die feiern beide in diesem Jahr ein Jubiläum - zum zwanzigsten Mal ermittelt Commissario Brunetti in der deutschen Ausgabe von „Reiches Erbe“, gerade druckfrisch erschienen. Und die Amerikanerin Donna Leon, die seit 30 Jahren in ihrer Wahlheimat Venedig lebt und arbeitet: die rundet im Herbst 2012 ihr Lebensalter, wird 70 Jahre alt. So oft ist das bereits ausgedrückt und ausgedruckt worden, dass wir es hier nicht verheimlichen müssen.

Jedes Jahr im Frühjahr ein neuer Fall für Commissario Brunetti, ein neuer Sturmlauf auf die Bestsellerlisten: seit zwanzig Jahren geht das nun schon so - seit dem ersten Fall „Venezianisches Finale“, 1993 als deutsche Erstausgabe erschienen. Einen Skandal in Venediges Opernhaus „La Fenice“ muss Brunetti da aufklären, den Tod des weltberühmten deutschen Stardirigenten Helmut Wellauer. Schon dieser erste Krimi wurde als großer Wurf gefeiert, „betörend und ein bißchen unheimlich wie Venedig selbst. Glänzend und unwiderstehlich“, so die amerikanische Schriftstellerin Rita Mae Brown.

Seit 20 Kriminalfällen schon hat Commissario Brunetti seinen Siegeszug in der literarischen Welt angetreten und nachhaltig behauptet: in 34 Sprachen übersetzt, millionenfach verbreitet.

Als Buch, als Hörspiel, als Hörbuch, seit dem Jahr 2000 schon achtzehnmal von der ARD verfilmt, zuletzt im April 2012 ausgestrahlt. Sogar ein Brettspiel ist schon auf dem Markt, ein literarischer Reiseführer „Mit Brunetti durch Venedig“ und ein literarisches Kochbuch „Bei den Brunettis zu Gast“ mit Brunettis Leibgericht, mit Paolas Apfelkuchen oder mit Donna Leons Lieblingsessen - Kürbisrisotto. Bücher, Brettspiel, Reiseführer, Kochbuch, immer Neues aus dem Venedig Commissario Brunettis: Das beweist das Suchtpotenzial und den Kultcharakter der Brunetti-Kriminalromane.

Und es bestätigt eben die Erfolgsmischung aus unwiderstehlichem Venedig-Flair, sympathischer Detektivgestalt, genussreichem wie familienbewusstem italienischen Lebensstil und gesellschaftskritischen Themen.

Weltberühmt geworden - nur nicht in Italien. Denn in die Sprache ihrer Wahlheimat möchte Donna Leon ihre Bücher nicht übersetzt sehen, um noch halbwegs ein ganz normales Leben in Venedig führen zu können, als eine von rund 50.000 Einwohnern. Gleichwohl: Für die Autorin ist es kaum möglich, tagsüber durch Venedig zu spazieren oder in einem Café zu sitzen, ohne von Touristen angesprochen zu werden, im Zweifelsfall deutschen - die sich als Donna-Leon-Fans outen, die , vorbei an Palazzi, Kanälen und Gondolieri, auf den Spuren von Brunetti durch Venedig pilgern. Da ist es besser für sie und besser für uns als Leser, wenn Donna Leon tagsüber die großen Touristenströme meidet und in strengem Rhythmus von morgens elf bis abends sieben an ihren Brunetti-Romanen schreibt, fleißig, diszipliniert, höchst produktiv. Und während wir heute Abend den 20. „Brunetti“ feiern, ist der 21. Brunetti bereits in englischer Sprache erschienen, im April in London und New York. Ist der 22. Brunetti bereits als Manuskript abgeschlossen.

So sind wir optimistisch im Doppel-Jubiläumsjahr von Commissario Brunetti und Donna Leon, im Jubiläumsjahr auch des Eifel-Literatur-Festivals: dass wir noch so manches Jubiläum feiern werden mit Donna Leon, mit Guido Brunetti, ob in Venedig oder anderswo, etwa in der Eifel.

Herzlich willkommen zum 10. Eifel-Literatur-Festival 2012,
herzlich willkommen in der Stadthalle Bitburger - die weltberühmte Schöpferin von Commissario Brunetti, Donna Leon, und als Moderatorin und Leserin der deutschen Textpartien - die Schauspielerin Pegah Ferydoni aus Berlin.