Festivalarchiv 2006 bis 2018

Sehnsucht nach Beziehungen, Scheu vor fester Bindung

Alissa Walser über junge Frauen heute

Einführungsrede von Dr. Zierden zu Alissa Walser am 15. Mai 2012 in Bitburg

Selten ist ein Eintritt in die Gegenwartsliteratur so spektakulär gewesen wie der von Alissa Walser, der drittältesten von vier Töchtern Martin Walsers. Klagenfurt am 27. Juni 1992. Alissa Walser liest beim 16. Klagenfurter Literaturwettbewerb  aus ihrer Erzählung „Geschenkt“ und gewinnt mit ihr den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis.  Eine Vater-Tochter-Geschichte, die mit dem Inzestmotiv spielt - eine Steilvorlage für autobiographisch fixierte Literaturkritiker. Zum Inhalt der preisgekrönten Erzählung: Die achtjährige Tochter liegt in der Nacht vor ihrem Geburtstag in einem Hotelbett neben ihrem Vater. Der bewegt die Hände unter der Decke. Versteckt er dort ein Geschenk für die Tochter? Oder masturbiert er?

Zeitsprung - 31. Geburtstag der Tochter, 62. Geburtstag des Vaters. Anruf des Vaters, der mit dem Handy im Haus unterwegs ist und im Garten. Die Tochter erzählt dem alten Vater von dem jungen Mann, den sie sich für eine Nacht gekauft hat. Vom Geld des Vaters, das er ihr Jahr für Jahr zum Geburtstag schenkt, seit sie 13 ist und sich körperlich zur Frau entwickelt. Detailliert erzählt sie ihm am Telefon vom Essen im Restaurant, von ersten Berührungen, von versuchten Küssen bis zu intimen Annäherungen im Auto. „Ich will dein privates Fleisch“, sagt die Tochter entschlossen dem jungen Mann, erzählt sie dem Vater am Telefon. Der treibt sie mit bohrenden Fragen zu Auskünften über das Intimste. Die Tochter hört ihn atmen, fragend nachhaken, kommentieren, rauchen, schweigen. Ein lebhaftes Medienecho begleitete diese preisgekrönte Debüt-Erzählung „Geschenkt“ des Jahres 1992.  Es war wesentlich dem Skandalon einer erotisch aufgeladenen Beziehung zwischen Tochter und berühmtem Vater geschuldet, die Literaturkritiker in den schmalen Erzähltext hineingelesen hatten.

Allem Medienrummel zum Trotz - Alissa Walser veröffentliche die Erzählung erst zwei Jahre später in einem Erzählband, dessen Titel „Dies ist nicht meine ganze Geschichte“ schon eine klare Antwort auf die Medienturbulenz gab.

Im Mittelpunkt aller zehn Geschichten, die für sich stehen und zugleich miteinander verwoben sind, im Mittelpunkt steht eine junge Frau. Die trifft sich heimlich mit einem Geliebten in einem Hotel. Die arbeitet als Fotomodell. Die lernt am Flughaften den schönsten Mann ihres Lebens kennen. Heftig wie flüchtig sind alle diese Liebesbeziehungen. Begegnungen zwischen Mann und Frau, die bestimmt sind von Gefühllosigkeit und Fremdheit. Begegnungen, die nicht in menschliche Nähe münden. In denen das Scheitern weiblicher Selbstbestimmung vorprogrammiert ist. Von Ich-Erzählerinnen distanziert und unterkühlt erzählt, in einer sachlichen, scheinbar teilnahmslosen Sprache, die als symptomatisch gilt für die „Prosa des ausgehenden 20. Jahrhunderts“. Um die Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ vollständig zu zitieren: „Die Prosa von Alissa Walser ist die Prosa des ausgehenden 20. Jahrhunderts, kühl wie Chrom, sachlich wie ein Laptop, emotionslos wie ein Roboter. Dennoch trifft sie mitten in die Seele.“ So auch im zweiten Erzählband „Die kleinere Hälfte der Welt“, im Jahr 2000 erschienen. Der beginnt mit der Titelerzählung, einer Tochter-Mutter-Geschichte. Während die Mutter der Tochter eine Gebrauchsanweisung zur Sexualität geben möchte, ist es längst schon passiert. Zehn Jahre später berichtet die Tochter der Mutter, wie sie ihre Unschuld verlor - an den Liebhaber, der zugleich der Liebhaber ihrer Mutter war, an den Nachbarn, einen amerikanischen Kammersänger, der mit der 14-jährigen ein Lied einstudieren wollte. Genüsslich-grausam wird zelebriert, wie die Tochter die Mutter betrogen hat. Vorgetragen in schockierender Kälte, die als typisch gilt für die Erzählweise Alissa Walsers.

Erzählungen, Theaterstücke, Übersetzungen, der Roman „Am Anfang war die Nacht Musik“ (2010) - Alissa Walsers Werk zählt inzwischen gut 30 Veröffentlichungen. Besonders bekannt und erfolgreich wurde ihr erster Roman „Am Anfang war die Nacht Musik“, der 2010 erschienen ist. Da geht es um den berühmten und zugleich als Scharlatan beschimpften Arzt Franz Anton Mesmer aus dem 18. Jahrhundert und um seine Behandlung der damals berühmten blinden Pianistin Maria Theresia Paradis in Wien. Im weiteren Sinne geht es um Konstellationen und Verhältnisse zwischen Eltern und Tochter, Arzt und Patientin, immer auch erotisch aufgeladen.

Heute Abend ist Alissa Walser zu Gast mit dem jüngsten Erzählband „Immer ich“, 2011 erschienen. Mit weiblichen Heldinnen, die sich nach Beziehungen sehnen, die auf Männer orientiert sind und die sich doch nicht festlegen und binden wollen. Flüchtige Beziehungen, flüchtig wie Pinselstriche auf der Leinwand. Was daran erinnert, dass hier eine Autorin und Malerin am Werk ist, die mit Worten und Farben Bilder zu schaffen vermag. „Mein Leben! Nichts als eine Mischtechnik!“ sagt eine der Figuren und charakterisiert damit ihr emotionales Stadium der Unentschiedenheit, des Sowohl-als-auch.  Angesiedelt zwischen Selbstbewusstsein und Selbstzweifeln. Einerseits ermutigt, immer stolz „Ich“ zu sagen, wie es gleich zu Beginn Onkel Uwe der kleinen Nina einschärft. Andererseits überdrüssig der ewigen Suche nach der eigenen Identität.
In Geschichten, die immer wieder autobiograpisch grundiert sind. Für die gilt das Motto der kanadischen Lyrikerin Anne Carson: „Jeder Laut, den wir von uns geben, ist ein Stückchen Autobiografie“, vorangestellt Alissa Walsers Roman „Am Anfang war die Nacht Musik“. Ebenso aber gilt Alissa Walsers Klarstellung: „Ich bin nicht das Ich, das aus meinen Büchern spricht“. Mischtechnik eben und ein Kompliment an ihr Erzählen, das durch und durch authentisch wirkt.

Herzlich willkommen beim 10. Eifel-Literatur-Festival,
herzlich willkommen in Haus Beda in Bitburg - die Schriftstellerin, Malerin und Übersetzerin Alissa Walser.