Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede zu Richard David Precht am 9. Mai 2014 in Bitburg

von Dr. Josef Zierden

Dr. Josef Zierden bei der Einführungsrede zu Richard David PrechtMeine sehr geehrten Damen und Herren,
herzlich willkommen in der „Bildungsrepublik Deutschland“.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sie im Juni 2008 ausgerufen, als zentrale Aufgabe der Politik für die nächsten Jahre: Mit den Slogans „Jedem die Chance auf Einstieg und Aufstieg“ und „Bildung für alle“. „Bildungsrepublik Deutschland“: Mehr als eine Worthülse sei das bisher nicht, bilanzierten Bildungsforscher 2013.

Sie sprechen eher von „Bildungskrise“, von „Bildungsarmut“ oder von „drohendem Bildungsnotstand“.

Schon längst sei es nicht mehr nur fünf vor zwölf. Kaum vergeht ein Bücherherbst, in dem nicht die Katastrophen des deutschen Bildungssystems beklagt werden. In dem sich nicht die hitzigsten Debatten am Dauer-Reizthema Schule entzünden. Richard David Precht, der Redner des heutigen Abends, diagnostiziert in seinem jüngsten Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ nicht weniger als eine „Bildungskatastrophe“.

Wie im Jahre 1964, vor einem halben Jahrhundert, schon der Philosoph und Pädagoge Georg Picht. Ein Buch über Bildung, das eine Bildungsrevolution auslöst: das war Georg Pichts Buch „Die deutsche Bildungskatastrophe“ aus dem Jahre 1964.

Und genau das möchte Prechts Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“  50 Jahre später auch wieder sein. 

Denn das konventionelle Schulsystem besteht für Precht „in seinem tragenden Gebälk aus überholten Relikten und Ritualen früherer Epochen des Lernens und Lehrens“. Und die müssten heute radikal verändert werden müssten. Von wegen Reformmüdigkeit, von wegen „die Schule auch mal in Ruhe lassen“, von wegen „Kontinuität“ über einen langen Zeitraum -  wie es Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) kürzlich noch in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ gefordert hat.

Gerade weil sich die Zukunft unserer Kinder und weil sich die Zukunft unserer Gesellschaft nicht zuletzt im Klassenzimmer entscheidet, fordert Precht mehr als eine Bildungsreform, fordert er eine Bildungsrevolution.

In seinem neuen Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ nimmt uns Precht mit auf spannende Reisen durch die Geschichte des Bildungsbegriffs und des Bildungssystems - und führt uns durch die Bildungsbaustellen der Gegenwart: Die mangelnde Durchlässigkeit und soziale Ungerechtigkeit des dreigliedrigen Bildungssystems. „Die soziale Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Schichten“. Die frühe Selektion in der Grundschule. Die Hauptschule als Restschule. Der Messbarkeitswahn der PISA-Studien und der Evaluationsbürokratie überhaupt.

Die Turbo-Schule G8. Das rigorose Diktat ökonomischer Effizienz von der Grundschule an. Die Uniformität des Lernens in überholten Organisationsstrukturendes 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Es sind die Kinder, deren Lernlust und Kreativität, deren Intelligenz und Eigensinn Richard David Precht am Herzen liegt.

Kinder wie Anna, die unbekümmert kreativ ein Bild vom lieben Gott malt. Und die wir auf dem Buchcover in monotonem Strafarbeits-Drill immer neu die Zeilen schreiben sehen: „Ich darf nicht denken“.

Es sind Kinder wie die 10jährige Marie, denen der G 8-Wahn nicht einmal einen Sonntag lang erlaubt, einfach mal abzuschalten und ungetrübten Kinozauber im Kreis der Familie zu genießen.

Es sind Kinder wie Prechts Sohn, der neunjährige Oskar, der beim morgendlichen Aufweckritual auf die Worte „Oskar, du darfst heute in die Schule gehen...“ nur noch müde und ironisch antworten kann: „Hurra! Hurra!“

Und es sind Kinder wie die Schülerin Yakamoz Karakurt, Neuntklässlerin an einem Hamburger Gymnasium, die - bei Bestnoten - das Gefühl hat, bis tief in die Nacht wie eine Maschine funktionieren zu müssen und über lauter Schule das Wichtigste zu verlieren, was sie habe: ihre Kindheit nämlich.

Damit das Bildungssystem nicht weiter ein Verrat an unseren Kindern bleibe, dafür hat Richard David Precht das Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ geschrieben. Und dazu wird er heute Abend zu uns sprechen.

Herzlich willkommen beim 11. Eifel-Literatur-Festival 2014, herzlich willkommen einmal mehr in der Stadthalle zu Bitburg: der Philosoph und Hochschullehrer, der Vater und Bildungsrevolutionär Richard David Precht.