Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede zu Martin Walser

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

man hat kürzlich vom „Frühjahr der Tagebücher“ gesprochen, damit auf die aktuelle Blütezeit dieser Gattung hingewiesen und konkret auf Neuerscheinungen von Max Frisch, Susan Sontag, Roland Barthes und eben von Martin Walser.

Der legte im März 2010, jenseits aller literarischen Trends und Moden, bereits den dritten Band seiner Tagebücher vor: nach den Tagebüchern der Jahre 1951 bis 1962, veröffentlicht 2005, und nach den Tagebüchern der Jahre 1963 bis 1973, veröffentlicht 2007, jetzt also das Tagebuch der Jahre 1974 bis 1978.
Die 70er Jahre: Sie waren eines der kontrastreichsten Jahrzehnte unserer Bundesrepublik. Ein Jahrzehnt, in dem „mehr Demokratie gewagt“ werden sollte und Berufsverbote verhängt wurden. Ein Jahrzehnt, in dem die Zeichen auf Entspannungspolitik standen und der Terror der RAF wütete - bis hin zum Deutschen Herbst 1977, als Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer von Terroristen entführt und ermordet wurde. Ein Jahrzehnt, in dem zwei sozialdemokratische Kanzler - Willy Brandt seit 1969 und Helmut Schmidt seit 1974 - die Bundesrepublik politisch prägten. Und in dem sich viele Schriftsteller zu den „Linken“, zu den „Sozialisten“ zählten, was oftmals hieß: links von der SPD, womöglich nahe der DDR-hörigen DKP, der Deutschen Kommunistischen Partei.
Und nun, als Spiegel dieser Zeit und als Spiegel seines Schriftstelleralltags, seines „Lebens und Schreibens“: Walsers „Tagebücher 1974 - 1978“.

Gerade mal vier Jahre auf voluminösen 540 Seiten.

Für viele Literaturkritiker Walsers spannendster Tagebuch-Band überhaupt. Waren es doch Jahre der Sorgen und der Kämpfe, Jahre schlimmster Demütigung und Jahre größter Erfolge.

Als Walsers Tage als „Jungstar am Literaturhimmel“ eher gezählt waren, als der letzte größere Bucherfolg schon Jahre zurücklag und als finanziell eng wurde für ihn, der eine sechsköpfige Familie zu ernähren hatte und das große Haus in Nussdorf kaum noch halten konnte. Da hing vom Erfolg des nächsten Buches ungeheuerlich viel ab. Und ausgerechnet diesen neuen Roman „Jenseits der Liebe“ bedachte der Literaturkritiker der FAZ, Marcel Reich-Ranicki, mit einem vernichtenden Totalverriss: „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman“ begann er, und: „Es lohnt sich nicht, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen.“ Schon Titel der Rezension „Jenseits der Literatur“ weist Walser aus dem Reich der Literatur. Ein Todesstoß für jedes schriftstellerische Selbstbewusstsein, aus heutiger Sicht „jenseits der Literaturkritik“. Walsers Wut und Hass und Rage nahmen ihren Lauf. Fantasien des Vernichtens und des Vernichtetwerdens wurden geweckt. Wunden wurden gerissen, die bis heute nicht wirklich geheilt sind. Noch 36 Jahre später ist es Walser wichtig zu zeigen, wie dieser Hass entstand - auf über einhundert Tagebuchseiten zum Jahre 1976. Ein eindringliches Dokument des berühmtesten Streits des deutschen Nachkriegsliteratur, wie Volker Weidermann vor wenigen Wochen in der FAZ geschrieben hat.

Auf die versuchte Vernichtung freilich folgte die Wiederauferstehung: nur zwei Jahre später, 1978, mit der Novelle „Ein fliehendes Pferd“. „Walsers Glanzstück“ nannte derselbe FAZ-Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki die Novelle schon im Titel, sprach hymnisch von Walsers „reifstem, schönstem und bestem Buch“, von einem „Glanzstück deutscher Prosa unserer Jahre“. Ein Tenor, in den die Literaturkritik fast einhellig einstimmte. In neun Tagen war die Erstauflage verkauft, die Zweitauflage in Druck und in der Auslieferung. Unaufhaltsam galoppierte „Ein fliehendes Pferd“ unaufhaltsam an die Spitze der Bestsellerlisten. Und machte Martin Walser vollends zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwartsliteratur.

Höhen und Tiefen also, die größte Niederlage, der größte Erfolg.
Darüber hinaus belegen die Tagebücher 1974 - 1978 einmal mehr die Vielseitigkeit des Tagebuchschreibers Walser. Der lässt sich beim Schreiben über die Schulter blicken, der notiert Träume, Gedichte, Dialoge. Der erzählt von seinem Amerikaaufenthalt und von seiner Japanreise. Der beschreibt Lese- und Lesungserfahrungen. Der setzt sich mit dem Literaturbetrieb auseinander und mit vielen seiner Autorenkollegen. Auch das Politische ist präsent, aber der „deutsche Herbst“ etwa ist kein Zentralthema des Buches. Auch im familiären Raum hält sich Walser eher zurück.
„Werkstattbericht“ sind die Tagebücher und „literarisches Zeitzeugnis“. Und eine Einladung zur Zeitreise durch Leben und Werk Martin Walsers in einem entscheidenden Jahrzehnt.

Auf diese Reise begeben wir uns gerne, gemeinsam mit Martin Walser, den wir einmal mehr in der Eifel begrüßen können,
wie schon 2001, 2004 und 2008. Herzlich willkommen beim Eifel-Literatur-Festival 2010, in der Aula des Cusanus-Gymnasiums Wittlich - herzlich willkommen Martin Walser.