Festivalarchiv 2006 bis 2018

Einführungsrede zu Herta Müller am 17. Mai 2010 in Prüm

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Stürmische Regennacht im August 2008 - im Maifeld, oberhalb der Mosel, nahe der Burg Eltz. Im Bürgersaal von Naunheim ist eine der kleineren Lesungen des Festivals 2008 zu Ende gegangen. Herta Müller hat ihren literarischen Essay „Der König verneigt sich und tötet“ vorgetragen. Mit schmerzlichen Erinnerungen an ihr Leben in einer Diktatur, deren Diktator sie König nennt. In der sie Sprache als Instrument der Unterdrückung erfuhr, aber auch als Möglichkeit des Widerstands und der Selbstbehauptung gegenüber der totalitären Macht. In einer Diktatur, in der gewaltsamer Tod eine tägliche Grunderfahrung und existenzielle Angst ein tägliches Grundgefühl war - lebensprägend und schreibbestimmend für Herta Müller noch zwei Jahrzehnte nach ihrem Weggang aus Rumänien.

Nächtliche Heimfahrt nach Prüm, mehr als 100 km über Autobahn und Bundesstraßen. Immer noch regnet es in Strömen, gießt es wie aus Eimern. Da wird das Auto zu einer dahinschaukelnden Nussschale des Erzählens. Wenn Herta Müller in immer neuen Gesprächsansätzen die Entstehung ihres kommenden Romans skizziert. Wenn sie von dem rumäniendeutschen Lyriker Oskar Pastior spricht und ihrem Plan, gemeinsam mit ihm den Roman zu schreiben, mit ihm, der selber deportiert war und der sich in allen Einzelheiten an das sowjetische Arbeitslager in der Ukraine erinnern konnte. Wenn sie auf Pastiors Tod zu sprechen kommt im Oktober 2006 und die Schwierigkeit, sich - nach einer langen Atempause - wieder mit dem Material zu befassen und nun erst recht das Buch alleine abzuschließen.
Und während die Autoscheibenwischer die Regenfluten kaum zu bändigen wissen und hinter den Scheiben inzwischen die Vulkaneifel bei Daun zu vermuten ist, tauchen wir ein in die Hölle des Stalinschen Arbeitslagers in der Ukraine und in das unbeschreibliche Martyrium der Deportierten.

Was wir in jener sintflutartigen Nacht auf der Eifelautobahn nicht ahnen können, auch nicht später in der hellen, trockenen Gaststube zu Prüm: dass dieser Roman - „Atemschaukel“ betitelt und genau ein Jahr später, im August 2009, erschienen - dass dieser Roman zu Herta Müllers atemberaubendem Meisterwerk werden würde, zu ihrem vielleicht besten Buch.
Und dass Herta Müller, nur kurze Zeit nach Erscheinen dieses Romans den Nobelpreis für Literatur erhalten würde - die höchste literarische Auszeichnung der Welt, als erste deutsche Autorin, als zwölfte Frau überhaupt in der 109 jährigen Geschichte des Literatur-Nobelpreises.

Zehn Jahre nach Günter Grass, fast 40 Jahre nach Heinrich Böll ging damit der Literatur-Nobelpreis wieder nach Deutschland. „Seit langem ist vom Literaturnobelpreis, dem berühmtesten aller Literaturpreise, nicht mehr eine solche Strahlkraft ausgegangen“, schwärmte Felicitas von Lovenberg in der FAZ. Und Bundespräsident Horst Köhler schrieb in einem Glückwunschtelegramm, Herta Müller habe „detailliert und ergreifend geschildert, was ein Unrechtssystem in den Herzen der Menschen anrichtet“.

Ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Literatur wurde eine der sprachmächtigsten Autorinnen der Gegenwart, eine „politische Poetin“, die jahrzehntelang angeschrieben hatte gegen die Enge der Provinz, gegen die Diktatur des Dorfes ebenso wie gegen das menschenverachtende kommunistische Regime des rumänischen Diktators Ceausescu.
Und die dabei nicht selten das Gefühl hatte in Deutschland, dass zum Thema „Menschen in der Diktatur“ die Ostdeutschen „nichts mehr sagen und die Westdeutschen nichts mehr hören wollen“, wie sie im Essay „Bei uns in Deutschland“ schreibt.

Der Nobelpreis für Literatur wurde - unvergesslich - am 8. Oktober 2009 bekanntgeben, um 13.00 Uhr, und am 10. Dezember in Stockholm von König Carl XVI. Gustav in einer feierlichen Zeremonie überreicht - 20 Jahre nach dem Sturz der Diktatur Ceausescus, 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. Er wurde damit auch als Würdigung der friedlichen Revolution in Osteuropa gewertet und und als Aufforderung, aus der traumatisierenden Erfahrung einer totalitären kommunistischen Diktatur Lehren zu ziehen für die Demokratie im 21. Jahrhundert.
Er würdigte die thematische Beharrlichkeit Herta Müllers, ihr beständiges Anschreiben gegen das Vergessen, das Vertuschen, das Verniedlichen in Zeiten, in denen man allzu gerne Ruhe gibt nach Diktaturen. Vor allem aber würdigte er ihre unvergleichliche, bilderstarke Sprachkraft, die mich persönlich von der ersten Lektüre an gefesselt hat, schon in ihrem ersten Erzählband „Niederungen“, 1984 erschienen, vor mehr als einem Vierteljahrhundert.

Es war ein weiter Weg zurück nach Prüm in jener stürmischen Eifelnacht des Jahres 2008. Noch weiter und schwieriger war der Versuch, Herta Müller nach der Nobelpreisverleihung noch einmal in die Eifel zu bekommen, wo sie schon 2001 gelesen hatte, im kleinen Fürstensaal des alten Abtei in Prüm.
Es ist geschafft. Und was in der Eifeler Augustnacht 2008 nur mündliche Erzählung war, liegt längst schon allein in Deutschland mehr als fünfhunderttausendfach gedruckt vor und wird sich schon bald, in zahllosen Übersetzungen, um die ganze Welt verbreiten.
So sind wir stolz, dass Herta Müller noch auf dem Olymp der Literatur die Eifel nicht vergessen hat, dass sie „Ja!“ gesagt zu einer Lesung in Prüm.

Herzlich willkommen also zum wiederholten Male beim Eifel-Literatur-Festival in Prüm, jetzt als Nobelpreisträgerin für Literatur - herzlich willkommen Herta Müller, und mit ihr der Ehemann Harry Merkle und ihr rumäniendeutscher Jugendfreund Ernest Wichner, Leiter des Literaturhauses Berlin. Er wird das anschließende Gespräch mit Herta Müller moderieren. ---