Festivalarchiv 2006 bis 2018

Keine Endzeit, sondern ein Anfang. Der Festivalnachbericht zu Florian Illies

10.09.2014

Florian Illies bringt mit seinem Bestseller „1913“ die Moderne vor 100 Jahren nahe

Eine so schillernde wie humorvolle Begegnung mit Menschen und Ereignissen des Jahres 1913 hat Florian Illies den Gästen des Eifel-Literatur-Festivals im ausverkauften Forum Daun geboten. Mit der in diesem Jahr deutschlandweit einzigen Lesung aus seinem Bestseller „1913“ hinterließ der Journalist, Galerist und Schriftsteller bleibenden Eindruck.

Florian IlliesDaun. Was war das für ein Jahr, 1913? Zumindest ein Vergessenes, weil sich das Augenmerk des kollektiven Erinnerns auf 1914 und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs richtet. Aus diesem Schatten hat es Florian Illies befreit, eher aus Zufall, wie er seinen Zuhörern in Daun erzählt. Irgendwann habe er gelesen, dass das Kunstwerk „Schwarzes Quadrat“ von Kasimir Malewitsch, das er zeitlich eher um 1920 eingeordnet hätte, 1913 entstanden sei. Und als ihm plötzlich auch das Fahrrad-Ready-Made von Marcel Duchamp mit dem Datum 1913 begegnete, sei das wie ein Stromstoß gewesen. Er habe 1913 als Anfang der Moderne begriffen und beschlossen, diesem Jahr ein Buch zu widmen. Darin fehle aber etwas, teilt Professor Wolfgang Schmid, der Hauptkulturwart des mit veranstaltenden Eifelvereins, dem Autor zur Begrüßung mit: „Sie haben die Region Eifel, genauer die damalige Jahreshauptversammlung des Eifelvereins in Trier mit der Feier des 25jährigen Gründungsjubiläums und der Ausstellung über moderne Errungenschaften in der Eifel unterschlagen.“ Illies kontert nach kleiner Sinnier-Pause zunächst frei nach Mark Twain: „Schlagfertigkeit ist das, was einem auf dem Nachhauseweg einfällt“, und dann, dass die Eifel, ja sogar der Lesungsort Daun, in 1913 erwähnt werde: „ Als Arthur Schnitzler - wie immer deprimiert - in sein Tagebuch schreibt, heißt das letzte Wort des Eintrags down.“ Damit beginnt eine Reihe köstlicher verbaler Schlagabtäusche, die die launige Grundstimmung des Abends bestens einleiten. Dabei lässt sich auch der Chef des Eifel-Literatur-Festivals, Josef Zierden, nicht lumpen. Zu Wolfgang Schmid gewandt konstatiert er: „Wir Eifeler verstehen es, für unserer Sache zu trommeln“, und dem Publikum stellt er 1913 als das Jahr vor, in dem es in Berlin noch möglich war, eine Großbaustelle (Stadion für die Olympischen Spiele 1916) drei Jahre zu früh fertigzustellen. Desweiteren gibt er Anekdoten aus Illies Buch zum Besten und bezeichnet dessen Texte als „flirrend“. Diesmal kommen die Repliken des Autors prompt: „Das Flirrende ist maßgeblich auf den Konsum bestimmter Getränke aus Ihrem Bundesland zurückzuführen.“ Und bezogen auf den Festival-Slogan sagt er: „Ich weiß gar nicht, ob es jetzt noch zu Sternstunden kommt, weil Sie die besten Pointen ja schon vorweggenommen haben.“ Doch Sternstunden gibt es mindestens noch ebenso viele wie Pointen bei dieser Lesung, die mit einer Geschichte aus der ersten Minute des Jahres 1913 beginnt.

Der 12jährige Louis Armstrong feuert zu Silvester einen Pistolenschuss ab. Er wird in eine Besserungsanstalt eingeliefert und bekommt eine Trompete zur Therapie. Das klingt, als hätte es gestern geschehen können. Auch weitere Textpassagen stellen eine verblüffende Nähe der Zeit vor hundert Jahren zur unsrigen her. In Auszügen der nach Monaten geordneten Kapitel berichtet Illies von der Angst damaliger Zeitgenossen, die Jahreszahl 13 könne Unglück heraufbeschwören. Das erinnert ein wenig an den neuzeitlichen Weltuntergangs-Hype zum Ablauf des Maya-Kalenders. Dann erzählt er von der erstmaligen Synthetisierung der Droge Ecstasy. Auch zitiert er die mit so modernen Vokabeln wie „Globalisierung“ und „Kommunikation“ gespickte Begründung eines Soziologen, dass es nie mehr zu Krieg kommen könne. Besonders dicht aber holt er 1913 heran, indem er Zeitgenossen, die wir heute als Ikonen der Kulturgeschichte bewerten, als Menschen aus Fleisch und Blut, mit allen denkbaren Obsessionen und Unzulänglichkeiten zeichnet. Ein schrulliger Höhepunkt ist der Auszug aus dem 20seitigen Heiratsantrag Frank Kafkas an seine Felice. Darin betreibt Kafka nicht nur Anti-Werbung, indem er von sich als Ehemann abrät, sondern verfällt auch noch in literarisches Stottern.

Publikum bei Florian Illies in DaunIllies beschreibt zudem herrlich süffisant Oskar Kokoschkas geradezu wahnhafte Besessenheit von Alma Mahler, aus der allerdings einige seiner größten Kunstwerke hervorgingen. In seinem Panoptikum lässt er auch unheimliche Winkelzüge des Schicksals nicht aus, etwa, dass sich Stalin und Hitler bei Spaziergängen in Wien nahe wie nie gekommen sein müssen, oder sich Stalin und Trotzki an dem Februar-Tag erstmals begegnen, an dem der spätere Mörder Trotzkis geboren wird. Und dass Gerhart Fischer, Sohn des Verlegers Samuel Fischer, der in diesem Jahr erfolgreich das Buch „Tod in Venedig“ herausgebracht hat, nach seiner Geburtstagsfeier in Venedig auf die gleiche Weise stirbt, wie der Romanheld. Das Datum, 9. September - auch das von Illies Lesung in Daun - ist in 1913 einer der ereignisreichsten Tage. Illies liest unter anderem vor, dass Einstein erstmals öffentlich seine Relativitätstheorie erklärt und der erste Marinezeppelin abstürzt. Ob die Zeitgenossen damals schon ahnen, welche Menschen, Ereignisse und Werke ihrer Zeit künftig bedeutsam sein würden? Im abschließenden Interview, in dem Illies auch Fragen beantwortet, die gar nicht gestellt wurden, verneint er das: „Erst aus dem Rückblick lassen sich Zusammenhänge oder Bedeutungen erkennen.“ Ob die angesprochenen Zeitgenossen nicht hätten vorausahnen können, dass es im Folgejahr zum Krieg kommen würde? „Nein“, meint Illies, „auch das nicht, bedenken Sie, dass alle späteren Kriegsgegner noch am 25. Mai gemeinsam an einer Tafel im Stadtschloss Berlin saßen, um Hochzeit zu feiern.“ Es gebe immer Menschen mit Vorahnungen, doch erst im Nachhinein stelle sich heraus, ob es sich dabei um Psychosen oder Visionen gehandelt habe. Bei der Beschäftigung mit 1913 habe ihn besonders erstaunt und fasziniert, was damals alles gleichzeitig passiert sei und welche illustren Akteure beteiligt gewesen seien.

Diese Faszination nehmen wohl auch die begeistert applaudierenden und zum Signiertisch strömenden Zuhörer mit nach Hause. Was wohl in hundert Jahren für Anekdoten über diesen Abend kursieren? emma

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