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Das Lebendige des Einzelnen entdecken. Nachbericht zu Rüdiger Safranski

20.09.2014

Rüdiger SafranskiMit einer Lesung aus seiner Bestseller-Biografie „Goethe, Kunstwerk des Lebens“ hat Rüdiger Safranski beim Eifel-Literatur-Festival ein lebendiges Bild von Johann Wolfgang von Goethe vermittelt. Sein gehaltvoller Vortrag in der Stadthalle Bitburg gab den 450 Besuchern Anstöße, was jeder für sich aus dem Leben des Dichters und Universalgenies lernen kann. Zudem gab er Einblicke in die Arbeit des Biografen.


Bitburg. Um Rüdiger Safranski beim Eifel-Literatur-Festival zu erleben, sind 450 Interessierte zum Teil von weither angereist, sie kommen beispielsweise aus Nordrhein-Westfalen, den Niederlanden oder Belgien. Unter ihnen sind auch Triers ehemaliger Oberbürgermeister Helmut Schröer, die CDU Landesvorsitzende Julia Klöckner und die SPD Landtagsabgeordnete Monika Fink.

Nicht nur für diese mit der Politik verwobenen Zuhörer hat Safranski an diesem Abend einige Denkanstöße im Gepäck. Sein schon dritter Auftritt beim Festival befasst sich mit Johann Wolfgang von Goethe und dessen Kunst, das Leben gelungen zu gestalten. Als Lesepassage dazu kündigt der Autor das 21. Kapitel aus seiner überaus erfolgreichen Biografie „Goethe, Kunstwerk des Lebens“ an, das ans Thema seines Festivalbesuchs 2010 anknüpft. Damals ging es um die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller, nun soll deren Entstehung im Jahr 1794 beschrieben werden. Doch bevor Rüdiger Safranski seine literarische Saat ausstreut, bereitet er den fruchtbaren Boden dafür beim Publikum. Zunächst erklärt er die Besonderheiten der Biografie und des biografischen Schaffens, macht deutlich, dass sich ein menschliches Leben nicht kausal erklären lässt: „Kausalität gibt es nur in der Welt der Dinge. Wenn ein Bewusstsein dazu kommt, endet sie, denn dann entsteht ein optionaler Raum“. Man könne ein Leben allenfalls verstehen, aus dem Rückblick, wenn man auf Umstände und Kontexte schaue und daraus Motive des Handelns ableite. Zum Verstehen gehöre untrennbar das Erzählen: „Das merken wir an uns selbst: Wenn wir mit Analysieren nicht weiterkommen, fangen wir an zu erzählen und begreifen dann plötzlich“. Nichts anderes tue der Biograf, und er bewege sich damit konträr zum Anspruch von Wissenschaft: „Während sie aus dem Einzelnen etwas Allgemeingültiges konstatieren will, betrachtet der Biograf das Allgemeine, zum Beispiel die Zeitumstände, zugespitzt auf etwas Individuelles“. Als jemand, der in die stark ideologisch geprägte Zeit um 1968 verstrickt gewesen sei, habe er selbst das Schreiben von Biografien als Befreiung erlebt: „Ich habe das Lebendige des Einzelnen wiederentdeckt“. 

Und dann lässt Safranski auch seine Zuhörer das Lebendige eines Einzelnen entdecken, er erzählt den Lebenslauf Goethes von dessen Geburt 1749 bis zum Jahr des Lesekapitels, 1794. Die Leidenschaftlichkeit dieses Vortrags steckt an, und es passiert, was Safranski zuvor übers Erzählen gesagt hat: Man begreift. Die Ikone Johann Wolfgang von Goethe wird zur Persönlichkeit aus Fleisch und Blut. Man sieht sie als den gut aussehenden Mann vor sich, der, materiell begütert und mit vielen Talenten gesegnet, ein anziehend bejahendes Verhältnis zur Wirklichkeit hat. Man hat Teil daran, wie er seine Chancen sieht und nutzt, wie ihm Erfolge und Frauen zufliegen, und wie er dank seines poetischen Furors schon früh als literarisches  Genie gilt, bis ihm all diese Leichtigkeit zu viel wird. Er will sich wirklichem Leben stellen, geht nach Weimar, macht aber auch dort widerstandslos Karriere bis hin zum Ministeramt. Nun bekommt er Panik, dass seine poetischen Talente verkümmern. Erneut flieht er, diesmal nach Italien, was ebenfalls gut geht und Früchte trägt. Gereift kehrt er zurück, entschlossen einen Kreis um sich zu ziehen, in dem nur noch Liebe, Freundschaft, Kunst und Wissenschaft Platz finden sollen. Aus diesem Leben könne ein Mensch von heute viele Anstöße mitnehmen, erläutert Safranski. Da gehe es um das Bestreben nach Balance zwischen verschiedenen Sphären, den Willen, sein Leben zu gestalten, seine Talente zu entfalten und den Mut, ein Individuum zu sein. Besondere Bedeutung für uns heutige, in globale Vernetzung und Kommunikation verstrickte Menschen sei das Bild des Kreises: „Goethe lebt uns damit vor, dass es wichtig ist, Grenzen zu ziehen, nur das in sich aufzunehmen worauf man auch produktiv antworten kann“. In seinen Kreis aufgenommen hat Goethe den für ihn elementaren Wert der Freundschaft. Darum geht es, als Safranski zu vorgerückter Stunde doch noch sein Buch aufklappt und die teils lustige Geschichte von der Annäherung Goethes und Schillers liest. Die beiden hegen zunächst ein von Abneigung und Neid geprägtes Verhältnis. Schiller bezeichnet Goethe als Egoist und sagt über ihn, er sei wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muss, um sie zu demütigen. Dann aber laufen sie sich zufällig bei einem Vortrag der „Naturforschenden Gesellschaft“  in Jena über den Weg und verstricken sich in einen Disput über die Idee einer „Urpflanze“, der Goethe gerade nachgeht. Gerade die Differenzen, die dabei zutage treten, lassen beide den schon immer gesuchten Gegenpol im jeweils anderen erkennen. Bald verbindet sie eine tiefe und fruchtbare Freundschaft.

Am Ende dieser so spannenden wie anregenden Lesung kann man einer Antwort Safranskis nur zustimmen. Gefragt von Festivalleiter Josef Zierden, wie er sich den kolossalen Erfolg seiner Klassiker-Biografie erklärt sagt er: „Man muss Leser mit seiner Leidenschaft ansprechen. Ich mache sie zu meinen Komplizen“. Wie wahr. emma

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